17. Februar 2013

Man kann sich als Projektleiter kaum etwas Schöneres vorstellen als lange, detailgesättigte Kommentare. Ein solcher erreicht mich von Hermann Müller. Er sei hier, auch um Nachahmer zu animieren, vollständig zitiert:

Ihre Seite ist wichtig und höchst erfreulich, sozusagen überfällig. Da uns ein Gedächtnis zumal der frühen pionierhaften ökologischen Bewegungen fast vollständig fehlt. Weil die einsamen Vorkämpfer nicht beachtet, lächerlich gemacht oder gar verfolgt wurden.

Umso mehr wundert es mich, dass unter Ihren Erinnerungsorten der symbolische Hauptort dieser Aufbrüche bisher nicht erscheint - der Monte Verità von Ascona. Noch verwunderlicher, weil die Gründung dieser utopischen Siedlung von München ausging und auch auf München zurückgewirkt hat - wie vor wenigen Jahren die Ausstellung der Monacensia über Schwabing und Ascona gezeigt hat. Ich will dazu nicht viele Worte verlieren, verweise nur auf den Ausstellungskatalog von Harald Szeemann von 1978, auf das brillante Buch von Martin Green:'Mountain of Truth. The Counterculture begins, Ascona, 1900-1920'. Hanover and London, 1986. Und auf die Webseite www.gusto-graeser.info.

Ascona-MV ist nicht der einzige Ort, der hier in Frage käme. Ich denke an die Waldsiedlung Grünhorst bei Berlin, eine Landkommune, die 1930 von der Gusto Gräser-Tochter Gertrud gegründet wurde und die zu einem Treff- und Sammelpunkt grün-alternativer Gruppen in der Weimarer Republik wurde. Ein Treffpunkt nicht nur der Jugend- und Reformbewegung, auch der Biosophischen Bewegung um Ernst Fuhrmann. Zu ihr gehörten neben den Gräserfreunden Schriftsteller wie Franz Jung, Hugo Hertwig, Karl Otto Paetel und andere, Zeitschriften wie DER STROM, GEGNER, DER DOM. Diese ökologische Avantgarde wurde 1933 ausgelöscht. Die meisten gingen ins Exil, andere wurden hingerichtet. Grünhorst wurde 1936 niedergebrannt.

Wenn nicht nur an konkrete Orte, auch an symbolhafte Menschen wie Kneipp gedacht wird, dann wäre sicher Gusto Gräser, der Mitgründer und Geistgeber des Monte Verità, an erster Stelle zu nennen. Gräser hat vielerlei Initiativen angeregt und ermutigt. Er war der ökologisch-alternative Wanderredner, vergleichbar einem John Muir oder Thoreau. Der Wald, die Zerstörung des Waldes und der Natur überhaupt sein dichterisches Hauptthema. Gräser hat keine Organisation gegründet,kein praktisches Unternehmen gestartet, er wirkte durch das lebendige Wort und viel mehr noch durch sein Beispiel. Seine rübezahlähnliche Gewandung war keine Marotte sondern demonstrative Erinnerung an Wald, Wildnis, Natur. Er machte sich zum Symbol. Dass er als solches auch verstanden wurde, hat z. B. Alwin Seifert schon in den Dreissigerjahren bezeugt. Nicht zu reden von seiner Wirkung auf Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf, Otto Gross, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam, Gustav Landauer und viele andere.

Man müsste auch an Karl Wilhelm Diefenbach erinnern, der 1882 vom Hohenpeissenberg in Obb. sein Natur-Manifest erliess. Auch ein Erinnerungsort, ebenso wie der Steinbruch von Höllriegelskreuth oder seine Landkommune HIMMELHOF bei Wien.

Und noch einmal Monte Verità, wo 1978 nicht nur die große Ausstellung von Szeemann stattfand - praktisch eine archäologische Ausgrabung der frühen Alternativbewegung - auch ein Erinnerungsfest um Gräsers Grotte im Wald von Arcegno, zu dem mehr als tausend junge Menschen kamen - ein stilleres, weil weniger kommerzielles, dafür umso mehr ökologisches und spirituelles "Woodstock" - zu dem die Aktiven kamen aus Landkommunen und Bioläden, um zu musizieren und zu tanzen und in Arbeitsgruppen die Gründung einer grünen Partei zu besprechen. Zu deren Gründern gehörte dann ein Schwiegersohn von Gusto Gräser - als lebendiges Verbindungsglied zwischen alter und neuer Ökologiebewegung.

Beim Blick in unsere internen Materialien fiel mir auf, dass der Monte Verità tatsächlich schon auf einer der Vorschlagslisten stand, über die wir uns in wechselnder Besetzung immer wieder austauschen. Irgendwie bekamen letztlich andere Erinnerungsorte den Vorzug - aber das muss ja nicht das letzte Wort sein. Seit heute steht jedenfalls der Erinnerungsort Monte Verità zur Abstimmung. Man darf gespannt sein, wie er sich schlägt.