Das Tempolimit
Kapitelübersicht - Aufbrüche - Das Tempolimit
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Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenDie Autobahn, Autofreie Sonntage, Das Waldsterben, Grenzen des Wachstums, Die Grünen
LiteraturDietmar Klenke, Freier Stau für Freie Bürger. Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949-1994, Darmstadt 1995.
Kurt Möser, Was macht eigentlich das Geschwindigkeitslimit? in: Patrick Masius (Hg.), Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin. Göttingen 2009, S.229-240.
Kurt Möser, Geschichte des Autos, Frankfurt am Main 2002.
Fußnoten[1] Zitiert nach Klenke, S. 67. BildnachweisEin vom Gordon-Bennett-Rennen inspiriertes Gemälde von 1905. Foto Deutsches Museum. |
Wenige Themen spalten die öffentliche Meinung so sehr wie das Tempolimit. Das Fehlen einer allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen ist eine deutsche Besonderheit, die nicht nur im Inland kontrovers beurteilt wird. Die Argumente der Kritiker wandelten sich im Laufe der Zeit: Es ging um Verkehrssicherheit, Autarkie, den Ölpreis und die Grenzen des Wachstums sowie Umweltschäden. Dagegen stand die Warnung vor Einbußen für die wirtschaftlich bedeutsame Automobilindustrie und die Einschränkung der Selbstverantwortung deutscher Bürger. Je nach persönlichem Standpunkt steht das Tempolimit für grauenhafte Unfälle, für den Geschwindigkeitsrausch in PS-starken Fahrzeugen oder für eine Anomalie im Umweltland Deutschland.
1. VorgeschichteZu Beginn der Motorisierung schärfte die rasende Geschwindigkeit der neuen Automobile den Sinn für Geschwindigkeit bei den übrigen Verkehrsteilnehmern. Durch den zunehmenden Einbau von Tachometern, die zunächst mithilfe impulsgebender Messkabel maßen, kam es zu einer Objektivierung der Geschwindigkeit. 1910 erfolgte die erste reichseinheitliche Begrenzung der Geschwindigkeit auf 15 km/h innerhalb von Ortschaften. Die Debatte um eine Limitierung orientierte sich zu dieser Zeit noch am sozialen Gegensatz zwischen den höher gestellten Automobilbesitzern und der Masse der Nichtmotorisierten. Für die Befürworter des Limits stand die Erhöhung der Sicherheit der restlichen Verkehrsteilnehmer im Vordergrund, Gegner der Limitierung sahen in ihr hingegen eine unnötige Bevormundung durch den Staat.
2. Die erste Abschaffung des Tempolimits
Die erste Abschaffung des Tempolimits erfolgte in Deutschland 1933 im Zuge der NS-Motorisierungspolitik. Ziel der NS-Politik war eine Wirtschaftsförderung durch Massenmotorisierung, deren Erfolge zur Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft beitragen sollten. Das Motorisierungsprogramm zeigte allerdings nur begrenzt Wirkung, da der hohe Treibstoffverbrauch ab 1935 im Widerspruch zur Kriegsvorbereitung durch Aufrüstung sowie zur angestrebten Autarkie stand. Ab 1938 kam es darum zur Wiedereinführung von Geschwindigkeitsbeschränkungen, Treibstoff-Rationierungen sowie zur Einführung von Fahrverboten. Die Limitierung blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen.
3. Ein Land kommt in Bewegung
Die 1950er waren eine Zeit der Massenmotorisierung innerhalb der BRD. Der PKW galt als Wohlstandssymbol und autofreundliche Politik wurde vom Wähler belohnt. Mit Maßnahmen wie die Einführung der Kilometerpauschale von 0,25 DM pro gefahrenen Kilometer förderte Bonn den Umstieg aufs Auto und der PKW-Besitz stieg in der Zeit von 1957-60 um 70 Prozent. Negative Folgen der Motorisierung wie etwa der scharfe Anstieg von Schadstoffemission wurden kleingeredet – so sprach Verkehrsminister Seebohm 1959 von "bedauerlichen Begleiterscheinungen".[1]
4. Massenmotorisierung und Massentod
Als 1970 ein trauriger Rekord von 19.193 Toten und 532.000 Verletzten auf deutschen Straßen zu beklagen war, begann eine neuerliche Debatte um das Tempolimit. Zunächst konnten Befürworter von Tempolimits am 1.10.1972 die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h auf Landstraßen erreichen. Beim Tempolimit auf Autobahnen gestaltete sich die Sache allerdings schwieriger: Die Automobillobby sträubte sich heftig gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen, die sie als Freiheitseinschränkung darstellte und warnte vor wirtschaftlichen Nachteilen für deutsche Autobauer, deren Wagen auf die hohen Geschwindigkeiten auf den Autobahnen zugeschnitten seien. Die Debatte überschlug sich, als im Herbst 1973 plötzlich sonntags die Straßen leer waren.
5. Die Ölkrise
Wie in vielen westlichen Ländern war die Ölkrise vom Herbst 1973 auch in der Bundesrepublik ein einschneidendes Erlebnis. Die im Vorjahr vom Club of Rome verkündeten "Grenzen des Wachstums" schienen plötzlich beängstigend real zu werden. Zu den Reaktionen gehörten neben den berühmten autofreien Sonntage ein befristetes Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Darauf reagierte der ADAC mit der Kampagne "Freie Fahrt für freie Bürger", deren Motto sprichwörtlich wurde. 1974 scheiterte im Bundesrat ein Kompromissvorschlag, der ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen vorsah. Nur eine "Richtgeschwindigkeit" von 130 km/h erwies sich als durchsetzbar – eine europaweit einzigartige Regelung.
6. Tempo und Wald
In den frühen achtziger Jahren brachte die öffentliche Diskussion um das Waldsterben günstige politische Voraussetzungen für eine erneute Debatte des Tempolimits. Grundlage war die Frage, welchen Beitrag der Kraftverkehr zur Minderung der Schadstoffemission leisten konnte. Die SPD und die Grünen verlangten eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf Autobahnen, da zuvor Studien die Minderung der Geschwindigkeit als Beitrag zur Bekämpfung von Schadstoffemissionen bestätigt hatten. Die Automobillobby argumentierte mit wirtschaftlichen Nachteilen für die Autoindustrie und setzte sich letztlich durch: Es blieb bei der freien Fahrt für freie Bürger.
7. Das Tempo der DDR
Bis Ende 1991 hatte auf ostdeutschen Autobahnen das Tempolimit 100 km/h gegolten, auf Landstraßen war die Geschwindigkeit auf 80 km/h begrenzt. Bereits kurz nach der Wende forderte der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Bundestages, Dionys Jobst, die DDR zur Aufhebung des Tempolimits auf Autobahnen auf. Obwohl sich laut einer Umfrage der Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 1990 89 Prozent der Ostdeutschen für eine Beibehaltung des Limits ausgesprochen hatten, gilt seit 1. Januar 1992 auch auf ostdeutschen Straßen nunmehr die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h.
8. Das schleichende Tempolimit
"Das letzte Tabu", betitelte der Nachrichtensender n-tv im April 2011 einen Bericht über das Tempolimit: "Als einzige Industrienation leistet Deutschland sich Autobahnen, auf denen unbegrenzt gerast werden darf."[2]Tatsächlich hat sich die freie Fahrt inzwischen in mehrfacher Hinsicht relativiert. Auf vielen Teilabschnitten gelten feste oder je nach Verkehrslage variable Geschwindigkeitsbeschränkungen. Bremen führte 2008 sogar ein generelles Tempolimit von 120 km/h auf den 60 Autobahnkilometern des Bundeslands ein. Und ob die Verkehrslage den Bleifuß überhaupt erlaubt, ist ohnehin eine offene Frage. Selbst dort, wo nur die Richtgeschwindigkeit gilt, bleibt bei hohem Tempo ein rechtliches Risiko: Gerichte können nämlich im Falle eines Unfalls auf eine Mitschuld erkennen, wenn ein Fahrer mit einer Geschwindigkeit jenseits von 130 km/h unterwegs war. Eine ambivalente Regelung, die zwiespältige Gefühle auslöst – und so gesehen dann doch ganz gut zur Umweltgeschichte des Autos passt.
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