Kapitelübersicht - Lebensweisen - Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner

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Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner    Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner

 

Wege der Erinnerung

  1. Vorgeschichte
  2. Ein Treffen im Jahre 1913
  3. Von Wandervögeln und Jugendwandern
  4. Die Jugend will gepflegt werden
  5. Freideutsch - Kulturreform oder Lebensreform?
  6. Der Hohe Meißner 1913 - ein "Wallfahrtsort" der Jugendbewegung?
  7. Bündische Jugend und Parteijugend - Die Weimarer Republik
  8. Der Marsch ins Dritte Reich?
  9. Die Folgetreffen auf dem "Heiligen Berg"
  10. Die Burg Ludwigstein - ein zweiter Wallfahrtsort?
  11. Der Hohe Meißner 2013

 

Verwandte Themen

HeimatDer romantische Rhein

 

Literatur

Lasse Heerten, "Rein bleiben und reif werden". Subjektformationen im Wandervogel und der Jugenddiskurs im Kaiserreich. Bochum 2006.

 

Wolfgang R. Krabbe (Hrsg.), Parteijugend zwischen Wandervogel und politischer Reform. Eine Dokumentation zur Geschichte der Weimarer Republik (Geschichte der Jugend 24). Münster 2000.

 

Ulrich Linse, Der Wandervogel, in Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. München 2001, S. 531-548.

 

Gustav Mittelstrass (Hrsg.), Freideutscher Jugendtag. Reden von Bruno Lemke, Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius. Hamburg ²1919.

 

Winfrid Mogge, Jürgen Reulecke (Hrsg.), Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Köln 1988.

 

Dietmar Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913-1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise (Geschichte der Jugend 17). Münster 1991.

 

Fußnoten

[1] Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend, S. 54.


[2] Vgl. Thomas Nipperdey, Jugend und Politik um 1900, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Göttingen 176, S. 338-359 u. Jürgen Reulecke, Im Schatten der Meißnerformel: Lebenslauf und Geschichte einer Jahrhundertgeneration, in: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Köln 1988, S. 11-31, hier: S. 16.

 
[3] Winfrid Mogge, Jürgen Reulecke (Hrsg.), Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Köln 1988., S. 68.

 

[4] Hermann Popert, Freideutsche Zukunft, in: Vortrupp II,19 (1.10.1913), S. 577-598, hier: 581.

 

[5] Gustav Mittelstrass (Hrsg.), Freideutscher Jugendtag. Reden von Bruno Lemke, Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius. Hamburg ²1919, S. 7-15, hier: S. 12.

 

[6] Alf Mintzel, Zur Entwicklung des Parteiensystems zwischen 1961 und 1966, in Dietrich Staritz (Hrsg.), Das Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen ²1980, 157-173.

 

[7] Nicolaus Becker, Der freie Rhein, zitiert in: Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning, Mythos Rhein. Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, S. 170.

 

[8] Reulecke, Im Schatten der Meißnerformel, S. 27.

 

[9] Ulrich Linse, Der Wandervogel, in Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. München 2001, S. 531-548, hier: S. 544.

 

[10] Ebd., S. 545.

 

Bildnachweis

Die Meißnerformel aus dem Jahr 1913.

Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein.

Vor rund 100 Jahren wurde der Hohe Meißner - der "König der hessischen Berge" - zum Veranstaltungsort eines bis dahin einmaligen Ereignisses. Etwa 3000 Jugendliche unterschiedlichster Organisationen, Verbände und Institutionen fanden sich am 12. und 13. Oktober 1913 zusammen, um dort den Ersten Freideutschen Jugendtag zu feiern. Zu den Teilnehmern zählten u.a. Wandervogelverbände, lebensreformerische Gruppen, Abstinenzvereine oder Studentenverbindungen aus dem Reichsgebiet und aus Österreich. Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner und die beschlossene "Meißnerformel" waren Ausdruck einer neuen Bewegung, auch wenn das Ziel einer vereinten Freideutschen Jugend 1913 nicht erreicht wurde. Als Wortmeldung der Jugend wirkte das Ereignis weit über den Tag hinaus, und auch heute noch scheinen sich jene Forderungen nach innerer Freiheit, Selbstbestimmung und eigener Verantwortung vom Selbstverständnis vieler moderner Jugendorganisationen nicht völlig zu unterscheiden. Die Grundgedanken, Ideen und Ziele, die 1913 auf dem Hohen Meißner verkündet wurden, haben das Selbstverständnis späterer Generationen von Jugendbewegten beeinflusst – was man nicht zuletzt darin erkennen kann, dass die Jugend zum Hohen Meißner zurückkehrte.

 

 

1. Vorgeschichte

Die Einsicht, dass sich zwischen Kindheit und Erwachsensein ein eigener Lebensabschnitt namens Jugend befindet, ist erstaunlich jungen Datums. Sie war ein Nebenprodukt von Urbanisierung und gesellschaftlicher Dynamisierung in der Zeit um 1900. Jugendliche schlossen sich zur gemeinsamen Freizeitgestaltung zusammen, entwickelten ein Gruppenbewusstsein und grenzten sich gegenüber Älteren und Jüngeren ab. In der Gesellschaft der Jahrhundertwende avancierte "Jugend" und "jung sein" zum Etikett, ja zum Leitbild gesellschaftlichen wie kulturellen Wandels. Jugend wurde zum Symbol des Aufbruchs und der Erneuerung, die einen "neuen Menschen" hervorbringen sollte. 1904 schreibt Arthur Moeller van den Bruck: "Ein Blutwechsel tut der Nation not, eine Empörung der Söhne gegen die Väter, die Ersetzung des Alters durch die Jugend!". Seither ist die Jugend Teil der modernen Gesellschaft: selbstbewusst, rebellisch – und nicht selten beneidet.

 

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2. Ein Treffen im Jahre 1913

Das Freideutsche Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner fand im Oktober 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, statt. Doch warum gerade das Jahr 1913? Dieses Jahr wurde zum Knotenpunkt verschiedener Ereignisse und gesellschaftlicher Tendenzen, die die Planung der Feier als symbolischen Akt begünstigten. Zum Einen waren es politisch-gesellschaftliche Transformationen, die die Vorkriegsjahre maßgeblich prägten. Der deutliche Sieg der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen 1912 (fast 35% der Stimmen) veränderte den politischen wie gesellschaftlichen Status quo. Die Sozialdemokratie bildete die stärkste Fraktion im Reichstag, konservative Strömungen standen zunehmend selbstbewussten, linksgerichteten Tendenzen gegenüber und die bürgerlich-liberale Fraktion erfuhr einen neuen Aufschwung. Freilich beeinflusste dieses neue politische Klima auch die Jugendbewegten ihrer Zeit. Abgesehen von den politischen Umbrüchen jener Jahre war 1913 das Jahr der großen nationalen Feierlichkeiten: So gab nicht nur das 25-jährige Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II. Anlass zum nationalen Gedenken, auch galt es an das 100-jährige Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig zu erinnern. In Abgrenzung zum selbstgefälligen "Hurrapatriotismus" des späten Kaiserreiches war das Freideutsche Jugendtreffen als Demonstration gegen die offiziellen Jubiläen gedacht. Hier wollte man sich nicht den verklärenden Gedenkfeiern hingeben, die über das innerlich wie äußerlich zerrüttete Kaiserreich - den "führerlosen Schnellzug" - hinwegtäuschen sollten.

 

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3. Von Wandervögeln und Jugendwandern

Als qualitativ und quantitativ einflussreichste Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann der "Wandervogel" betrachtet werden. Dieser gliederte sich zwar in verschiedene Bünde auf, seine Mitglieder trugen jedoch ein überregionales Kollektivbewusstsein nach außen. Im Zentrum dieser Bewegung stand das "Jugendwandern": Schüler der höheren Klassen unternahmen unter der Obhut von Mentoren - älteren Schülern, Studenten oder Pädagogen - organisierte Wanderfahrten, die an Wochenenden oder in den Schulferien stattfanden. Ziel des Jugendwanderns war die Selbstbefreiung und Selbsterziehung der Jugend. Fernab alltäglicher Einflüsse konnten Jugendliche im Kreise Gleichgesinnter die Natur als integrativen Bestandteil der Heimat und deutscher Volkstümlichkeit erfahren; die Erziehung erfolgte dabei durch die Älteren, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit den jungen Wandervögeln teilten. Die Wandervogelbewegung entfaltete eine derartige Anziehungskraft für Schüler, dass aus den ursprünglich rein männlich besetzten Wandergruppen das Mädchenwandern hervorging - obschon es von vielen Wandervogelgruppen kontrovers diskutiert wurde. Abgesehen von dem feinmaschigen Netz, das sich zwischen den unterschiedlichen Vereinen ausbreitete, pflegten die Wandervögel enge Kontakte zu anderen Verbänden wie dem "Bund Deutscher Wanderer" oder zur "Deutschen Akademischen Freischar". In ihrem Einfluss bereitete die Wandervogelbewegung das "soziale Milieu innerhalb der Jugend, aus dem die Freideutsche Bewegung hervorging".[1]

 

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4. Die Jugend will gepflegt werden

In den Vorkriegsjahren fand der politische Diskurs um Jugend seinen Ausdruck in der Jugendpflege. Hierbei ging es um einen Wettlauf, der darauf abzielte, Jugendliche in ihrer politischen Sozialisierung zu beeinflussen - ganz nach dem Motto: "Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!"[2]. Die Jugendpflege sollte ein Gegengewicht zur sozialdemokratischen Jugendarbeit werden und geriet so ins Visier verschiedener Interessengruppen: Kirche, Militär, Regierung und Parteien. Dass die Jugendpflege zu einem Politikum wurde, spiegelt sich im Jahr 1911 wider: Der preußische Kultusminister veröffentlichte in diesem Jahr einen Erlass über die staatliche Förderung der Jugendpflege; zudem wurde von Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz der "Jugenddeutschlandbund" gegründet, wodurch die Jugendpflege nun an eine Institution gebunden war. Die Politisierung der Jugend im Rahmen der Jugendpflege war ein zentraler Grund für die breite und kontroverse Rezeption des Freideutschen Jugendtags von 1913.

 

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5. Freideutsch - Kulturreform oder Lebensreform?

Obschon die Freideutsche Jugend in der reformerischen Wandervogelbewegung ihren geistigen Ursprung hat, war dennoch nicht klar, was "freideutsch" eigentlich heißen sollte. Die Jenaer Vorbesprechungen im Juli 1913, in denen ein offizieller Aufruf zum Meißnerfest erarbeitet werden sollte, ließen das weite Spektrum an Zielsetzungen zutage kommen: Wie sollte man angesichts der äußerst heterogenen Zusammensetzung der Teilnehmer alle Vorstellungen über Ziele und Ausgestaltung des Festes auf einen Nenner bringen? Hatte der Verleger Eugen Diederichs noch versucht, die Motive des Festes möglichst breit auf den Begriff der "Kultur" zu münzen, so setzte der Reformpädagoge Gustav Adolf Wyneken den Schwerpunkt auf die Jugend. In dem von ihm verfassten Aufruf verortet Wyneken die deutsche Jugend an einen "geschichtlichen Wendepunkt". So habe sich die im Aufbruch befindliche Jugend zum Katalysator einer neuen Geistesreform erhoben: "Sie möchte das, was ihr an reiner Begeisterung für höchste Menscheitsaufgaben, an ungebrochenem Glauben und Mut zu einem adeligen Dasein lebt, als einen erfrischenden, verjüngenden Strom dem Geistesleben des Volkes zuführen, und sie glaubt, daß nichts heute unserem Volke nötiger ist als solche Geistesverjüngung."[3] Die Akzentuierung Wynekens auf den Aspekt der jugendlichen Geistesreform blieb nicht konkurrenzlos: Vor allem Hermann Popert und Hans Paasche versuchten einen deutlich lebensreformerischen Zug in die Gründung der Freideutschen Jugend zu bringen. In einem stark sozialdarwinistischen Duktus propagiert Popert seine Utopie von innerer Sozialreform des deutschen Reiches durch eine allumfassende Lebensreform - seine Forderung: "Die Rassenhygiene muß die bestimmende Macht unseres öffentlichen Lebens werden".[4] Die Rückkehr zur heimatlichen Natur, die Abstinenz von "Kulturgiften", Gemeinschaftserfahrung und Müßiggang sollten der Schwächung des jugendlichen Geistes und Körpers entgegenwirken.

 

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6. Der Hohe Meißner 1913 - ein "Wallfahrtsort" der Jugendbewegung?

Das Meißnerfest 1913 umfasste verschiedene Motive zugleich: Es war nicht nur der symbolische Gründungsakt der Freideutschen Jugend, sondern auch eine Säkularfeier zur Leipziger Völkerschlacht und damit eine Demonstration gegen den unreflektierten Hurrapatriotismus des krisenhaften Kaiserreiches. Der zeitgeschichtliche Kontext, der Ort und schließlich die Eigendynamik der Feierlichkeiten haben zum mystisch überhöhten Bild des "Hohen Meißners 1913" beigetragen. Die Legende rund um das Meißnerfest lässt jedoch schnell vergessen, dass die Gründung der Freideutschen Jugend eher spontan erfolgte, und dass diese trotz ihrer symbolischen Gründungszeremonie zunächst weiterhin eine "unbestimmte Größe" blieb. Der Hohe Meißner war sozusagen der offizielle Beginn einer Bewegung, die noch zersplittert war. Dennoch - und das ist der zentrale Punkt - bildete das Meißnerfest ein identitätsstiftendes Kollektiverlebnis, eine Generationserfahrung, die über Jahrzehnte hinweg ihre Ausstrahlungskraft nicht verlor. Die Meißnerformel, deren Verkündung neben Wettspielen, Tänzen und Reden zum offiziellen Rahmen des Festes gehörte, sollte zum generationsübergreifenden Grundsatz der Freideutschen werden: "Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein."[5] Angesichts der Transformation jugendlicher Protestbewegungen, die sich in der Nachkriegszeit herausbildeten, avancierte der Hohe Meißner zu einem zentralen Symbolort, ja "Wallfahrtsort" jener Gruppen, die sich mit dem Erbe der Freideutschen Jugend identifizieren konnten.

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7. Bündische Jugend und Parteijugend - Die Weimarer Republik

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Revolutionsjahr von 1918/19 sahen sich Jugendbewegte mit einer neuen Realität konfrontiert. Der Krieg hatte einen Großteil ehemaliger Mitglieder gefordert, die Novemberrevolution mobilisierte sozialistische und rechtskonservative Kräfte zugleich, hohe Arbeitslosigkeit und Inflation schürten ein Bewusstsein der Perspektivlosigkeit und das politische System erfuhr große Transformationen - der Wechsel von einer konstitutionellen hin zu einer parlamentarischen Verfassung. Bei dem ersten Nachkriegstreffen im Frühjahr 1919 zeigte sich rasch, dass die Freideutsche Jugend als Erneuerungsbewegung nicht mehr konsensfähig war, zumal die Mitglieder in ihrer politischen Ausrichtung völlig zersplittert waren. In den Folgejahren setzte sich hingegen die Idee des Bundes durch, der in der "Neuen Schar" und der 1926 zusammengeschlossenen "Deutschen Freischar" ihren Ausdruck findet: Diese männlich besetzten Bünde waren streng hierarchisch gegliedert und verpflichteten ihre Mitglieder zur Arbeit für die gemeinsame Sache. Geleitet wurde der Bund durch einen Führer, der sich durch sein Charisma legitimierte. Die stark nationalistisch, teils antisemitisch und rassistisch geprägte bündische Jugend grenzte sich bewusst vom "Parteiengezänks" der Weimarer Republik ab und entzog sich der massenhaften Alltagskultur durch Natur- und Gemeinschaftserlebnisse. Mit der Herausbildung der modernen "Massen- und Apparatpartei"[6] in der Weimarer Republik traten auch vermehrt politische Jugendverbände hervor. Diese Verbände erfüllten zunächst einen für die Parteien grundlegenden Zweck: Sie waren ein "Reservoir und Entfaltungsforum für Nachwuchskräfte" - Zeitgenossen sprachen bildhaft von "Rekrutendepots". Obschon die Parteien versuchten ihre Jugend eigennützigen Zwecken zu unterwerfen, kämpften die republikanisch-demokratischen Jugendverbände - darunter die Zentrumsjugend, Jungsozialisten und Demokratische Jugend – für Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Sie schreckten nicht davor zurück, die Tagespolitik und die Entwicklung der eigenen Mutterpartei kritisch zu bewerten, zumal sie ihre Rolle als "Hüter der Parteidoktrin"[7] sahen und ihr Selbstverständnis auf ebendieser basierte. Konservative Verbände wie die Hindenburgjugend oder Bismarckjugend sahen sich hingegen stärker den autoritären Strukturen ihrer Mutterpartei verpflichtet. Mit dem Parteiverbot am 14. Juli 1933 war auch das Schicksal der politischen Jugendverbände der Weimarer Republik besiegelt.

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8. Der Marsch ins Dritte Reich?

Angesichts der fatalen wirtschaftlichen Lage und politischen Instabilität Ende der 20er Jahre strahlte der "Frontgedanke" eine große Anziehungskraft auf die bündische Jugend aus. Der Slogan "Jugend an die Front" wurde von den Nationalsozialisten gebraucht, um für die junge Generation zu werben. Jugend wurde zu einem regelrechten Kampfbegriff. Die junge Frontgeneration sollte nicht mehr das Erbe der Väter antreten, sondern die bestehende Gesellschaft, das verhasste "System Weimar", verdrängen um eine umfassende völkische Erneuerung voranzutreiben - "Macht Platz ihr Alten!", so die Forderung des NSDAP-Politikers Gregor Strasser 1932. Freilich dienten derartige Parolen als Köder, schließlich sollte die junge Generation für innen- und außenpolitische Ziele der Nationalsozialisten gewonnen werden. Doch schlussendlich war auch sie Teil einer homogenen, gleichgeschalteten Volksgemeinschaft, die dem Führer zu dienen hatte. Und dennoch: Welchen Anteil hatte die Jugendbewegung am Aufkommen des Nationalsozialismus? Die deutsche Jugendbewegung als Wegbereiter des Nationalsozialismus zu bezeichnen wäre ebenso verkürzt, wie die Hitlerjugend als einen Teil eben dieser Bewegung. Dennoch fragt Jürgen Reulecke, der die Jugendbewegung als eine "Jahrhundertkohorte" untersucht hat: "Gab es nicht in der spezifischen Persönlichkeitsstruktur der Jahrhundertkohorte, in ihren mentalen Grundlagen Elemente, die - nicht zuletzt ihre jugendbewegten Teile - leichter verführbar machten oder sie zu a-politischen passiven Erduldern selbst eines kraß unmenschlichen Regimes werden ließen?"[8]

 

 

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9. Die Folgetreffen auf dem "Heiligen Berg"

Das Meißnerfest blieb noch über ein halbes Jahrhundert später als ein zentrales Ereignis der deutschen Jugendbewegten im Kollektivgedächtnis haften. Dies war auch der Grund dafür, warum es in den 20er, 50er, 60er und 80er Jahren zu Folgetreffen kam: Hier sollte die Generationserfahrung einer gemeinsamen Bewegung im Zeichen der Jugend wiederbelebt werden - doch leider vergeblich: Bereits 1923 stellte sich heraus, dass das Meißnerfest in seiner Art einmalig bleiben sollte. Schließlich trat nun neben die Erinnerung an jene Feierlichkeiten von 1913 das Gedenken der Opfer des Ersten Weltkriegs. Eine Gedenktafel, die 1950 anlässlich des 30-jährigen Bestehens der "Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V." eingeweiht, und ein Gedenkstein, welcher 1984 errichtet wurde, erinnern an den legendären Jugendtag von 1913. Die Bedeutung des Hohen Meißners als Symbolort der deutschen Jugendbewegung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar, als der "König der hessischen Berge" dem Kohleabbau zum Opfer fallen sollte. Eine Koalition aus Lokalpolitikern, Naturschützern und jugendbewegten Traditionsvereinen kämpfte für den Erhalt ihres "heiligen Ortes" und konnte so die Zerstörung des Meißners abwenden; 1960 wurde das Bergmassiv unter Naturschutz gestellt.

 

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10. Die Burg Ludwigstein - ein zweiter Wallfahrtsort?

In den Nachkriegsjahren entwickelten sich "neue Formen der jugendlichen Protestkultur"[9], wodurch Vertreter der alten Generation "heilige Orte" aufsuchten und pflegten, die unmittelbar mit der Geschichte des Wandervogels und der Freideutschen Jugend verbunden waren. Einer dieser Orte war und ist zweifelsohne die Burg Ludwigstein bei Witzenhausen, knapp zwanzig Kilometer Luftlinie vom Hohen Meißner entfernt. Seit dem Frieden von Versailles wurde die Burgruine als deutsche "Jugendburg" gepflegt: Sie sollte nach der "Schmach von Versailles" ein Symbol für eine Zukunft voller Zuversicht und Hoffnung im Zeichen der Jugend sein; zugleich war es ein Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Unter der Schirmherrschaft eines Trägervereins wurde das "Reichsarchiv der deutschen Jugendbewegung" in die Burg integriert, so dass dieser Ort als Gedenk- und Forschungsstätte zugleich dienen sollte. Nach 1933 vereinnahmte die nationalsozialistische Reichsjugendführung diesen Gedenkort für ihren heroischen Jugendkult und verortete sich symbolisch in die Tradition der alten Jugendbewegungen. 1940 heißt es in der Presse: "Über dem Ludwigstein weht heute die Fahne der Jugend des Großdeutschen Reiches. Unter ihrem Zeichen vereinen sich nunmehr die alten Kriegswandervögel mit ihren jungen Kameraden von der Hitler-Jugend im Gedenken an die Gefährten, die fielen, damit Deutschland lebe."[10] Seitdem die Burg nach 1945 durch die Alliierten freigegeben wurde, ist sie heute Kulturdenkmal, Jugendherberge, Tagungsort und Archiv zugleich. Vor allem aber ist sie das - wie es auf der offiziellen Homepage heißt - "geistige Zentrum vieler Wandervogel-, Pfadfinder- und Jugendbünde". Bis heute also beansprucht die Burg Ludwigstein für sich den Status eines "Wallfahrtsortes".

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11. Der Hohe Meißner 2013

Im Jahr 2013 jährt sich das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner zum hundertsten Mal. Grund genug zu fragen, wie es um den "König der hessischen Berge" steht? Ist der Hohe Meißner immer noch ein Erinnerungsort, ein "heiliger Ort" der Jugendbewegung? Oder ist die Erinnerung verblasst? Die Schwierigkeit, diese Fragen mit einem klaren "Ja" oder "Nein" zu beantworten, fußt bereits in der Begrifflichkeit: Was bedeutet Jugend bzw. Jugendbewegung heute im Vergleich zum beginnenden 20. Jahrhundert? Ohne Zweifel geht mit dem Begriff "Jugendbewegung" heute eine völlig andere Konnotation einher, wie noch vor über hundert Jahren: Mit der Herausbildung neuer, ausdifferenzierter Protestformen seit den 50er Jahren hat sich der Begriff "Jugendbewegung" zu einem Kollektivsingular transformiert, der verschiedenste Strömungen - politische, religiöse wie kulturelle - umfasst. Dementsprechend ist es nach über hundert Jahren schwierig, den Hohen Meißner als Erinnerungsort der Jugendbewegung zu bezeichnen. Seine Bedeutung liegt viel mehr in der historischen Dimension. Er ist der symbolische Gründungsort einer Bewegung, die bis ins 21. Jahrhundert die deutsche Jugendkultur mitprägte. Nicht zuletzt weil die Erlebnisgeneration des Freideutschen Jugendtags mittlerweile ausgestorben ist, erscheint der Status des Hohen Meißners als historischer Ort umso wichtiger. Im Vergleich zu anderen Erinnerungsorten deutscher Geschichte scheint der Hohe Meißner im Kollektivgedächtnis weniger präsent zu sein: Wer an das nordhessiche Bergmassiv denkt, dem werden wohl eher der Naturschutzpark, das Wandern oder Frau Holle einfallen.

 

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{accordion}Kommentare::Kommentar von "viriditas":

 

Und jetzt endlich weg mit der Meissner-Formel! Die hundert Jahre alte Formel hat das klare Denken hundert Jahre lang gehindert, denn auch ein überzeugter Mörder handelt "vor eigener Verantwortung" und greift tapfer zur Waffe, auch ein Kindesmissbraucher handelt "nach eigener Bestimmung" und missbraucht das Kind, auch Adolf Hitler war mit sich und der vermeintlichen Vorsehung völlig im Reinen und lebte "in innerer Wahrhaftigkeit". Eine neue Formel muss her für den Wandervogel, ein Credo, drei Begriffe reichen: Aufklärungshumanismus, Gleichheitsfeminismus, Menschenrechtsuniversalismus!

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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Christoffer Leber

 

Online seit 2012

 

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Empfohlene Zitierweise: Christoffer Leber, Erinnerungsort "Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/lebensweisen/63-das-jugendtreffen-auf-dem-hohen-meissner.