Der romantische Rhein
Kapitelübersicht - Verehrte Natur - Der romantische Rhein
Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenLaufenburger Stromschnellen, Blaue Blume
LiteraturMark Cioc, The Rhine. An Eco-biography. Seattle 2002.
Gisela Dischner, Ursprünge der Rheinromantik in England. Frankfurt am Main, 1972.
Peter Lentwojt, Die Loreley in ihrer Landschaft. Frankfurt am Main, 1998.
Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning, Mythos Rhein. Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003.
Wolfgang Minaty (Bearb.), Die Loreley. Gedichte, Prosa, Bilder. Ein Lesebuch. Frankfurt am Main, 1988.
Fußnoten[1] Heinrich Heine, Ich weiß nicht, was es soll bedeuten, in: Heinrich Heine, Buch der Lieder. Die Heimkehr. Hamburg 1827, S. 178f.; URL: http://de.wikisource.org/wiki/ Ich_wei%C3%9F_nicht, _was_soll_es_bedeuten, aufgerufen am 29.10.2011.
[4] Ernst Behler, Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 5. Auflage. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 100f.
[5] Friedrich Schlegel, Reise nach Frankreich. Erinnerungen, in: Friedrich Schlegel (Bearb.), Europa. Eine Zeitschrift. Frankfurt a. M. 1803, S. 7ff.
[6] Friedrich Schlegel, Burgruinen, in: Ernst Behler (Bearb.), Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 4, Paderborn 1959, S. 96f.
[7] Nicolaus Becker, Der freie Rhein, zitiert in: Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning, Mythos Rhein. Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, S. 170.
[8] Max Schneckenburger, Die Wacht am Rhein, zitiert in: Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning, Mythos Rhein. Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, S. 222.
[9] Clemens Brentano, Werke, Bd. 1, Bearb. W. Frühwald und F. Kemp. München 1978, S. 98-101.
[10] Aloys Schreiber, Handbuch für Reisende am Rhein, 1818, zitiert in: Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning, Mythos Rhein. Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, S. 245.
[11] Mythisches Expo-Projekt im Besucherzentrum auf dem Loreley-Plateau, zitiert in: Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning, Mythos Rhein. Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, S. 241.
[12] Ernst Busch, Ami go home!, in: Wolfgang Minaty (Bearb.), Mit Gesang wird gekämpft. Lieder der Arbeiterbewegung, Berlin 1967, S. 128f.
[13] Allen Ginsberg, Ruhr-Gebiet, in: Wolfgang Minaty (Bearb.), Die Loreley. Gedichte, Prosa, Bilder. Ein Lesebuch. Frankfurt am Main, 1988, S. 229.
[14] Frederick K. Hunt, The Rhine. Its Scenery and Historical and Legendary Associations, London (1845) 2005, S. 1.
[15] Frederick K. Hunt, The Rhine. Its Scenery and Historical and Legendary Associations, London (1845) 2005, S. 2.
[16] Mark Cioc, The Rhine. An Eco-biography. Seattle 2002, S. 12.
BildnachweisGemälde von Nikolai von Astudin. |
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, 1824 dichtete Heinrich Heine seine berühmten Verse über die "Lore-ley", die den romantischen Mythos vom unentrinnbaren Rheinzauber verewigten. Von Friedrich Silcher vertont, verbreiteten sich Heines Verse um die ganze Welt. Rund 100 Jahre später sieht Lion Feuchtwanger diesen Rheinzauber jedoch in einem ganz anderen Licht, wenn in seinem Gedicht "Rheinfahrt" das lyrische Ich spottet:
Wenn mein Sohn dergleichen Unsinn äußerte, Diese zwei Perspektiven markieren die Entwicklung des Rheins vom romantischen Sehnsuchts- zum verkitschten und verspotteten Tourismusziel. Als Erfindung deutscher und britischer Touristen ist der romantische Rhein heute UNESCO-Weltkulturerbe und der "Rheinkitsch" kurbelt immer noch eine beachtliche Tourismusindustrie an. Neben ihrer touristischen Funktion haben die Rheinromantik und ihr Sujet, der obere Mittelrhein zwischen Mainz und Köln, aber auch eine besondere Rolle in der deutschen Geschichte gespielt.
1. Vorgeschichte: Die Aufklärung und die französische Revolution
Der Rhein diente nicht nur der Heidelberger Romantik und dem Sturm und Drang als intellektueller Bezugspunkt. Bereits zur Zeit der Aufklärung tauchte der Fluss in zahlreichen Reisebeschreibungen auf. Doch war das hier gezeichnete Bild der Rheinlandschaft ein ganz anderes als das, welches später den Federn von Clemens Brentano und Heinrich Heine entspringen sollte. Wo die Romantik später den wilden, ungezähmten und pittoresken Teil des Rheins bevorzugte, richtete sich der rationale, empirische Augenmerk der Aufklärung eher auf gemäßigte Rheingegenden und fruchtbare Nutzflächen. Die Rheinautoren der Aufklärung sahen sich als Naturforscher, die den Fluss eher enzyklopädisch als ästhetisch beschrieben. Während der französischen Revolution schauten zeitgenössische Betrachter oft bewundernd auf die französische Rheinseite. Deutsche Jakobiner und Romantiker wie Georg Forster oder Joseph Görres waren eng mit dem Rhein verbunden. Mit der bedrohlichen Expansion des napoleonischen Frankreichs wandelte sich die anfängliche Bewunderung jedoch in vielen Fällen in Desillusion oder tiefe nationalistische Abneigung.
2. Literarische Impulse aus England
Viele Impulse für die deutsche Romantisierung der Rheinlandschaft kamen aus Großbritannien. Die Übersetzung der Dichtungen des gälischen Barden Ossian, die sich im Nachhinein als geschickte Fälschung erwies, hatte dort schon in den 1760ern für Begeisterung gesorgt. In der Folgezeit löste die raue, ungezähmte Natur der schottischen Highlands das klassische Italien als Bildmotiv und Inspiration ab und ein mächtiger folkloristischer Impuls breitete sich von England ausgehend in ganz Europa aus, wo er sich mit der damaligen Welle des Nationalismus verband. So wurden auch die Landschaften und Legenden des Mittelrheins bald als verwandter Stoff entdeckt. Die englische Empfindsamkeit legte ebenfalls wichtige Grundlagen für Sturm und Drang und (Rhein)Romantik. Sie wendete sich gegen den Rationalismus der Aufklärung und stellte instinktive Natürlichkeit, "Gefühl" und "Geschmack" in den Vordergrund. Die Empfindsamkeit betonte außerdem den Moment des subjektiven Erlebens und suchte das Besondere oder Bizarre, das Orten und Personen Individualität und Authentizität verleiht.
3. Ein widerspenstiger Fluss
Der Rhein war Anfang des 19. Jahrhunderts nicht nur eine fruchtbare Idylle voller Nebenarme, Fischerdörfer, Inseln und Flussauen, sondern an vielen Stellen auch wild, unberechenbar und gefährlich. Stromschnellen und Wirbel an Stellen wie dem Loreley-Felsen gefährdeten die Schifffahrt, das Binger Loch verhinderte gar eine durchgehende Befahrung des Rheins. Im Winter gab es den Eisgang, wo Eisschollen den Fluss herunter trieben und sich an engen Stellen zu begehbaren, aber tückisch beweglichen Eisflächen verdichteten. Gerade diese Aura der Gefahr aber war für romantische Reisende spannend: Das Echo am Loreley-Felsen, das heute durch den Verkehrslärm nicht mehr zu hören ist, wurde für sie mit Musik oder Pistolen wirkungsvoll inszeniert.
4. Die romantische Natur
Friedrich Schlegel schreibt bei seiner Rheinreise 1806: "Für mich sind nur die Gegenden schön, welche man gewöhnlich rauh und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, nur erhabene Gegenden können schön sein, nur diese erregen den Gedanken der Natur."[3] Gerade das Unendliche, Gewaltige, Dunkle steht in den romantischen Rheindarstellungen im Vordergrund: So zum Beispiel in Joseph von Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart", wo der Rhein als kosmisches Ereignis auftritt. Die Natur wird als Spiegel der Empfindungen verstanden und erhält eine Dynamik und Theatralik, die in starkem Kontrast zu den statischeren Bildern der Aufklärung und des Klassizismus, aber auch zu der nachfolgenden Phase der Industrialisierung steht. Die Romantik tauschte harmonische Mensch-Natur-Darstellungen gegen wilde, menschenleere Landschaften oder sagenhaft verklärte Motive ein. Ist die Verfremdung, die eine imaginative Neuentdeckung eines Motivs ermöglicht, eine zentrale Idee der Romantik, so ist eine andere die Sehnsucht nach Vereinigung mit Natur und Kosmos.
5. Burgenkult und das "Weltreich am Rhein"
"Nichts aber vermag den Eindruck so zu verschönern und zu verstärken", schreibt Schlegel in seinem Rhein-Reisebericht, "als die Spuren menschlicher Kühnheit an den Ruinen der Natur, kühne Burgen auf wilden Felsen – Denkmale der menschlichen Heldenzeit, sich anschließend an jene höheren aus den Heldenzeiten der Natur."[4] Die Sehnsucht der Rheinromantik spiegelte sich nicht nur in bestimmten Landschaften, sondern auch in einem religiös angehauchten Mittelalterkult. Damit war ein deutsches Nationalbild verbunden, das stark von Werten wie Lehnstreue und Gottesfurcht geprägt war. In Friedrich Schlegels "Weltreich am Rhein" galten die Rheingebiete als Kernland dieses Deutschtums[5] – eine deutliche Abwendung von der Frankreichschwärmerei der vorigen Jahrzehnte. Burgen beziehungsweise Burgruinen entlang der Rheinufer, oft an malerisch-dramatischen Orten gelegen wie zum Beispiel die Burgruine Drachenfels oder das Heidelberger Schloss, dienten dem romantischen Gemüt als Traum von Arkadien. Sakralbauten wie der Kölner Dom (dessen Vollendung in dieser Zeit vehement vorangetrieben wurde) und die Wernerkapelle bei Bacharach erlebten einen richtiggehenden "gothic revival". Mehrere in Ruinen liegende Burgen und Schlösser wurden in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wieder aufgebaut. Der Burgen- und Gotikkult hatte vor allem eine Historisierung der Rheinlandschaft zur Absicht und damit eine spirituelle Erneuerung der deutschen Nation und Rekonstruktion ihrer Seinseinheit. Schlegel argumentiert in seinem Essay "Burgruinen", dass die gotische Bautechnik (deren Ursprünge eigentlich in Frankreich liegen) eine "deutsche Kunst" sei.[6]
6. Das Rheinland wird preußisch
Durch die vom Wiener Kongress beschlossenen Restituierungen gehörte das Gebiet am mittleren Rhein ab 1815 zu Preußen. Die Region, die vom preußischen König Friedrich Wilhelm III als die "deutschen Urländer" bezeichnet wurde, spielte deshalb eine wichtige Rolle auf dem Weg Preußens zur Großmacht und der Entwicklung des deutschen Nationalgefühls. Als neue Regierungsinstanz stand das konservative, obrigkeitsstaatliche Preußen jedoch in spannungsreichem Kontrast zu dem napoleonisch geprägten, liberal-bürgerlichen Rheinland. Erst mit Friedrich Wilhelm IV, dem "Romantiker auf dem Thron", der gerade zur Rheinromantik mehr Affinität zeigte, entspannten sich die rheinisch-preußischen Beziehungen. Dem preußischen Regenten wurde die Burg Stolzenfels geschenkt, die er bis 1842 wieder aufbauen ließ. In der rheinischen Politik ließ sich nach 1848 jedoch ein Rückzug ins Privatleben und eine gewisse Stagnation beobachten. Auch die politisch aufgeladenen romantischen Motive des Rheins wurden mehr und mehr in einen nationalistischen Zusammenhang gestellt und dienten nach 1871 vor allem der Verherrlichung der undemokratischen Reichsgründung.
7. Von der Romantik zum Nationalismus
Die zunächst eher harmlosen Deutschlandschwärmereien der Romantik mündeten im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen aggressiven Nationalismus. Romantische Impulse und Motive wurden dabei zunehmend trivialisiert und instrumentalisiert, bis sie kaum noch etwas mit ihrem Ursprung zu tun hatten. Die Ursache für diese wachsende Politisierung der Rheinlandschaft lag im immer wieder eskalierenden Konflikt zwischen Frankreich und Preußen um die Region. Doch hatten auch romantische Motive gelegentlich eine dunkle Seite: Der romantische Schönheitskult um die Wernerkapelle bei Bacharach verdeckte zum Beispiel antisemitische Assoziationen – angeblich wurde der junge Werner von einem Juden ermordet. Dass diese dunkle Seite schon Zeitgenossen bewusst war, zeigt Heinrich Heines kritische Erzählung "Der Rabbi von Bacharach".
8. Rheinpatriotismus, Rheinlieder und Rheinwein
Der in den 1840ern drohende Konflikt zwischen Preußen und Frankreich um die Rheingebiete brachte in Deutschland rund 400 rheinpatriotische Lieder hervor, die auch auf französischer Seite ihre Pendants hatten. War Nicolaus Beckers Lied "Der freie Rhein" mit seinem Vers "Sie sollen ihn nicht haben / den freien deutschen Rhein!"[7] noch eine moderate Form deutsch-romantischer Klischees, so schlugen andere Lieder einen martialischeren Ton an, wie Max Schneckenburgers Lied "Die Wacht am Rhein" belegt:
Die Rheindichtung hatte eine große Affinität zur Musik – berühmte Komponisten wie Robert Schumann vertonten romantische Lyrik – doch verloren die Rheinlieder mit zunehmender Popularisierung an Qualität. Der Rhein-Kitsch zeigte sich unter anderem bei den so genannten "Rhein und Wein"-Liedern. Der Rheinwein war schon zu Sturm-und-Drang-Zeiten ein Symbol nationaler Identität und wurde durch die Romantik zum Massentrend. Über die studentischen Burschenschaften in Universitätsstädten wie Bonn und Heidelberg erlangten diese Rhein-Wein-Lieder eine noch stärkere Ausbreitung, wurden jedoch zunehmend mit aggressiv-nationalistischem Gedankengut assoziiert. Bei der Burschenherrlichkeit ging das Besteigen von Drachenfels und Rolandsbogen Hand in Hand mit patriotischem Trinken, Singen und Schlagen. Die Mythisierung der "Wacht am Rhein" und des vaterländischen Todes war ein mächtiges Propagandainstrument im Krieg gegen Frankreich und hielt sich bis in den zweiten Weltkrieg.
9. Denkmäler aus französischen Kanonen
Um die Zeit der Reichsgründung wurde der neue (Rhein-)Nationalismus schließlich durch zahlreiche Nationaldenkmäler am Rhein gefestigt, die für das frisch gegründete Reich eine monumentale, bedeutungsgeladene und mythisierte deutsche Erinnerungslandschaft schaffen sollten. Beispielhaft seien hier das Hermannsdenkmal am Teutoburger Wald und das martialische Germania-Monument im Niederwald genannt. Letzteres wurde als "Wacht am Rhein" bezeichnet und bestand zum Teil aus eingeschmolzenen französischen Kanonen. Durch diese Monumente diente der Rhein auch nach der Reichsgründung 1871 als ideologischer Bezugspunkt des Reichs. Als fast kultischer Fokus nationaler Identität wurden diese Denkmäler in wallfahrtsartigen Reisen von Vereinen und Burschenschaften besucht und stehen mehrheitlich heute noch.
10. Clemens Brentano am Rhein: Lieder und Märchen
Lyrik, Musik und Märchen waren in der Romantik zentrale Gattungen, die als Mittel zur Transzendierung von Materialität dienten. Der Schriftsteller Clemens Brentano bereiste den Rhein gleich zwei Mal. Dabei entstanden mehrere für die Rheinromantik zentrale Werke. In seinem Roman "Godwi oder das steinerne Bild der Mutter" tauchte zum ersten Mal die Loreley auf. Bei der zweiten Rheinreise gemeinsam mit Achim von Arnim entstand ganz in der folkloristischen Tradition der englischen und später auch der deutschen Romantik die Nationalliedersammlung "Des Knaben Wunderhorn", die 1806 erschien. Aus Brentanos Rheinreisen gingen außerdem die "Rheinmärchen" hervor, die allerdings erst im Jahr 1844 veröffentlicht wurden. Lokale Märchen- und Folkloreelemente wie die Loreley, der Vater Rhein und die Rheinlandschaft als Paradies auf Erden wurden von Brentano zu neuen Mythen verschmolzen. Neben dem Loreley-Mythos war auch das Nibelungenlied ein zentrales Produkt der Rheinromantik.
11. Die Loreley
Zu Bacharach am Rheine, Und machte viel zuschanden Obwohl es in der Gegend um St. Goar und den Loreleyfelsen schon seit der Römerzeit vielfältiges Sagenmaterial um Heinzelmänner und orakelnde Echos gegeben hatte, ist die Entstehung der Loreley als Figur direkt auf Clemens Brentano zurückzuführen, der sie im obigen "Zu Bacharach am Rheine" berühmt machte. Alois Schreiber positionierte die Jungfrau 1812 in seinem "Handbuch für Reisende am Rhein" erstmals auf dem Loreley-Felsen und legte ihre Geschichte und Persönlichkeit als Sirene fest:
Stilisiert wurde die Sirene schließlich von Heinrich Heine in seinem "Ich weiß nicht, was es soll bedeuten" von 1824. In der Folge wurde der Mythos als Lied, Oper und in zahlreichen Übersetzungen weitergeführt, variiert und zunehmend verkitscht. Heute finden Besucher des Loreley-Plateaus ein "Besucherzentrum mit interaktiven Installationen, Exponaten zum Anfassen und Sirenengesängen im Mythenraum".[11] Die bronzene Loreley von Natascha Alexandrovna Prinzessin Jusupov auf der Hafenmole von St. Goarshausen ähnelt Hans Christian Andersens "Kleiner Meerjungfrau" allerdings mehr als der "femme fatale", welche die Loreley ursprünglich symbolisierte.
12. Vielseitiger Mythos Loreley
Bei Clemens Brentano war die Loreley noch eine vielseitige und widersprüchliche Figur: Sie war "Tochter der Phantasie", eine "gute und schöne Wasserfrau", Wasser-Personifikation, Melusine, Circe und Nymphe, aber auch eine Frau, deren eigene Schönheit ihr zum Verhängnis wurde und sie schließlich mit gebrochenem Herzen in den Freitod trieb – nicht zuletzt kamen auch die Züge eines Ungeheuers leise durch. Zwar gerann diese Vielzahl allegorischer Deutungen im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Klischee, doch die grundsätzliche Wandelbarkeit des Loreley-Mythos wird deutlich, wenn man seine Nutzung in den verschiedensten politischen Kontexten beobachtet. Im sich entfaltenden deutschen Nationalismus wurde die Loreley-Figur stark mit dem deutschnationalen Germania-/"Wacht am Rhein"-Motiv assoziiert. Aber auch nach 1945 tauchte sie als nationale Identifikationsfigur in politischen Kontexten auf – zum Beispiel in Ernst Buschs Lied "Ami go home!"[12]. In den 1970ern und 80ern wurde die Loreley schließlich zu einem Protestsymbol gegen die Verschmutzung des Rheins wie in Allen Ginsbergs Gedicht "Ruhr-Gebiet":
13. Englische Romantiker auf "Grand Tour"
Die Rheinreise war oft Teil der obligatorischen Europareise oder "Grand Tour", die der Bildung junger englischer Gentlemen im 18. und 19. Jahrhundert durch das Erleben von Landschaft, Kunst und Literatur den letzen Schliff geben sollte. Gemeinsam mit deutschen Reiseberichten sorgten diese englischen Reisenden für eine Flut von Publikationen, die den Rhein von einer Durchfahrtslandschaft zu einem Reiseziel mit Eigenwert machten. In den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bereisten so auch zahlreiche englische Romantiker den Rhein und sorgten mit ihren Werken für eine starke Popularisierung der Rheinreise. Unter ihnen waren Ann Radcliffe, Mary Shelley, George Gordon, Lord Byron und der Maler William Turner. Von diesen englischen Tour-Reisenden stammte auch der Begriff "Tourist"; dieser wurde um die Wende zum 19. Jahrhundert angesichts der wachsenden Anzahl von Besuchern gebräuchlich. In Folge ihrer romantischen Werke entstand die populäre englische Rheinromantik noch vor der deutschen.
14. Romantik für die Massen – Reiseführer und Konsum
Die Trivialisierung der Rheinromantik und ihr darin verstecktes Ende sind nicht nur eng mit dem Rhein-Wein-Kitsch, sondern auch mit der Entstehung des Massentourismus verbunden. Dazu trug das entstehende Genre des Reiseführers erheblich bei. Der erste Baedeker-Reiseführer drehte sich um die "Rheinreise" und wurde 1835 veröffentlicht. Er etablierte die Vergnügungsreise und einen Kanon an (konsumierbaren) romantischen Sehenswürdigkeiten. Um Eindrücke vom Rhein einer größeren Menschenzahl zugänglich zu machen, wurden die neuesten Bilddrucktechniken der Lithographie verwendet. Wer den Rhein nicht selbst bereisen konnte, konnte durch Leporellos (einer Art Reiseführer in Zeichnungen) und später durch riesige Panoramen, Dioramen und Pleoramen eine Rheinfahrt-Illusion auch andernorts erleben. Durch diese Massenvermarktung geriet die Rheinreise schnell zu einer Ansammlung von Konsumklischees, wie die Kurzbeschreibung des Engländers Frederick K. Hunt zeigt:
Es war ein Paradoxon in sich, den „romantischen Rhein", der ja gerade durch seine Unberührtheit und nostalgische Vergessenheit so besonders war, gleichzeitig mit hunderten anderen Menschen zu erleben. Schon in der Hochzeit der Rheinromantik fand deshalb bei englischen Schriftstellern wie William Thackeray und George Meredith eine gewisse Parodisierung des Rhein-Faibles statt. Mit der im deutschen Kaiserreich entstehenden Biedermeier-Strömung verlor auch die Romantik ihren universal-kosmischen Aspekt. Im Vordergrund stand immer mehr ein Kulturverständnis, das sich auf Genuss und Konsum konzentrierte.
15. Tourismus-Boom
Der Rheintourismus boomte nicht nur durch die Masse an Reiseberichten und Reiseführern, sondern auch durch technische Fortschritte: So hatte die Begradigung des Flusses zu einem enormen Anstieg der Rheinschifffahrt geführt. Der erste englische Schaufelraddampfer befuhr schon 1816 den Rhein und markierte den Beginn des Industriezeitalters auf dem Fluss. Die neuen Dampfschiffe konnten eine viel größere Anzahl an Menschen transportieren und waren Voraussetzung für die romantische Tourismuswelle, welche Frederick K. Hunt zum Kommentar veranlasste: "The 'Grand Tour' is no longer privilege of the few".[15] Die englischen Touristen blieben jedoch eine starke Gruppe: Zwischen 1826 und 1890 waren 50 Prozent der Fahrgäste Engländer.
16. Die Kehrseite des Booms – Das Schicksal des Flusses im 19. Jahrhundert
Die napoleonischen Kriege, der Wiener Kongress und das entstehende deutsche Kaiserreich wirkten sich nicht nur in kultureller Hinsicht stark auf das Leben am Rhein aus, sie führten im Verlauf des 19. Jahrhunderts buchstäblich zur Entstehung eines neuen Rheins. Der Wiener Kongress schuf die Rheinkommission (heute in Straßburg zuhause), die den freien Handel auf dem Fluss und damit letztendlich seine Internationalisierung voranbringen sollte. Um die Schifffahrt auf dem Rhein zu vereinfachen, wurde unter der Regie des badischen Ingenieurs Johann Gottfried Tulla ein enormes Begradigungsprojekt unternommen und der vielarmige Rhein in ein einziges Bett gezwungen. Wo vorher eine blühende, variierte und malerische Flusslandschaft existierte, nahm nun der Rhein immer mehr die Monotonie eines Kanals oder eines "Techno-Flusses"[16] an. Teil dieses Großprojekts waren auch die Sprengung des Binger Lochs und von Teilen des Loreleyfelsens. Die massiven Eingriffe in den natürlichen Lauf des Flusses führten langfristig zum Aussterben zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, den Verlust wichtiger Flussauen, der Zunahme von Überschwemmungen und der Vergiftung des Flusssystems mit Schwermetallen und Chemikalien durch industrielle Betriebe und Großstädte. Auch der Rheintourismus trug und trägt zur Belastung des Ökosystems Rhein bei – doch rettete er gleichzeitig alte Fischerorte wie Sankt Goar oder Bacharach, die trotz schwindender Fischbestände ein neues Einkommen fanden.
17. Nation, Romantik und Realität
Die Rheinromantik erlebte ihre Hochphase zu einer Zeit, in der der besungene Fluss unter der Regie einer rationalistischen Korrektur- und Optimierungsmentalität rapide verschwand. Die symbolische Bedeutung des romantischen Rheins verblasste angesichts der von Ingenieuren erschlossenen Kohle- und Erzvorkommen an den Rheinufern, die eine zentrale Rolle im wirtschaftlichen Aufschwung des Kaiserreichs spielten. Noch ironischer ist jedoch, dass der deutschnationale Rheinpatriotismus zu einer Zeit aufflammte, als der Fluss durch die Projekte der Rheinkommission zunehmend zu einem internationalen Strom wurde.
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