Die Blaue Blume
Kapitelübersicht - Verehrte Natur - Die Blaue Blume
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Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenDer romantische Rhein, Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner, FKK, Heimat
LiteraturRüdiger Safranski, Romantik. Frankfurt a. M., 2009.
Otto Best, Die Blaue Blume im Englischen Garten.
Romantik – ein Mißverständnis? Frankfurt a. M., 1998.
Fußnoten[1] Novalis, Heinrich von Ofterdingen. Frankfurt a. M. (1802) 1982, S. 5-8.
[4] Joseph Goebbels, in: Rüdiger Safranski, Romantik, Frankfurt a.M. 2009, S. 354.
[5] Ulrich Beck, Die blaue Blume der Moderne. Der Spiegel 33 (1991). Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-13488201.html (30.10.2011)
BildnachweisKornblumen in einem Gerstenfeld; Ort: Münster, NRW, Deutschland. |
Kaum eine kulturelle Epoche hat die Wahrnehmung der Beziehung zwischen Mensch und Natur so beeinflusst wie die Romantik. Im Gegensatz zu den Aufklärern, die Verstand und Logik in den Mittelpunkt stellten, ist Erkenntnis für die Romantiker eng mit Gefühlen und vor allem Liebe verbunden. Die blaue Blume aus dem Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" von Novalis gilt vielen als zentrales Symbol dieser literarischen Bewegung. Die blaue Blume ist mehr als nur eine Pflanze: Sie verbindet Mensch und Natur und steht für eine goldene Zeit, einen paradiesischen Zustand, für Vollkommenheit und Erleuchtung. Die Blume ist auch die verkörperte Sehnsucht und steht für das Streben nach Liebe, Erkenntnis und vollkommener, transzendierender Vereinigung mit dem Universum.
1. Vorgeschichte: Heinrich von Ofterdingen
Heinrich hat in der Johannisnacht einen prophetischen Traum von einer Blume, die ein Mädchengesicht hat – das Gesicht seiner späteren Frau Mathilde:
Heinrich erwacht voller Sehnsucht nach diesem Gesicht und zieht aus, um es zu finden. Auf dieser Suche reift der Held innerlich, lernt die Welt kennen und gewinnt Lebens- und Liebeserfahrung. Der Roman, der 1802 nach dem frühen Tod des Dichters erschien, definierte viele Ziele der romantischen Bewegung. Er thematisiert nicht nur das Wesen und die Entstehung von Poesie, sondern auch deren Verbindung zu Heimat und Vergangenheit und darüber hinaus das Zusammenspiel von subjektiver wie objektiver Realität in der menschlichen Seele. Novalis spielt mit zentralen Stilmitteln der Romantik: Träume, Gedichte, Lieder und Märchen. Allerdings wurden Roman, Autor und blaue Blume erst später zum prägenden Symbol der Romantik, als Heinrich Heine das Motiv in seiner Romantischen Schule von 1833 aufgriff. Durch Heines prominente Thematisierung kam es allerdings ähnlich wie bei der Loreley auch zu einer Trivialisierung und Ironisierung des Symbols.
2. Natur und Dichtung in der Romantik
Der Romantik liegt ein organischer Naturbegriff zugrunde, der sich auf Kants Naturphilosophie und seinen Organismusbegriff stützt. Demzufolge ist der Kosmos kein statischer, maschinenartiger Mechanismus, kein Perpetuum Mobile, sondern ein dynamischer Organismus. Damit wird der Entzauberung, die die Aufklärung mit ihrem rationalistisch-technischen Blick mit sich brachte, entgegen gewirkt. Das Universum ist für die Romantiker immer im Entstehen und alles ist Teil von allem Anderen. Samenkörner, Blumen, Pflanzen und Bäume sind zentrale Metaphern dieser organischen Weltauffassung, die den ewigen Kreislauf von Leben und Sterben betont. Die Blüte ist dabei Symbol für den Höhepunkt des organischen Kontinuums – ihre Analogie ist der menschliche Kopf. Die menschliche Bewusstseinsentwicklung ist eng mit dem Verständnis dieses Universums verbunden. Für die Romantiker ist das Hauptinstrument für dieses Verständnis die Dichtung und das subjektive Empfinden. In Natürlichkeit, Urwüchsigkeit und intensiven, stark aus dem Unterbewussten drängenden Gefühlen sehen sie den Ursprung dichterischer Kreativität. Diese Gefühle standen in ihrer Direktheit und Klarheit in starkem Kontrast zu als gekünstelt und verfälscht empfundenen zivilisierten Verhaltensweisen. Noch heute klingen viele dieser romantischen Ideale in der Umweltbewegung nach.
3. Wanderschaft und Wandervogel
Romantische Ideale und Mystik wurden vor allem von diversen Lebensreformbewegungen und der Jugendbewegung – allen voran dem Wandervogel – in ihre Vereinsmentalität integriert. Die blaue Blume wurde wegen ihrer Wanderschaftssymbolik häufig getragen und wurde in zahlreichen Liedern als Motiv verwendet. Die Jugendbewegung wandte sich ab von Industrialisierung und Urbanisierung, Rationalismus und Materialismus und berief sich auf ein naturnahes Leben. Ihre Vorstellungen von naturnahem Leben versuchte der Wandervogel über Wanderaktivitäten und als ursprünglich empfundene Volkskultur auszuleben:
Obwohl der Wandervogel sich vom Hurra-Patriotismus des Kaiserreichs absetzte, hing die Bewegung dennoch einem romantischen National-Idealismus an. Waren „Natur" und „Geist" die Losungsworte der Romantiker, so wurde "Leben" zum Motto der Jugendbewegung – ein von Friedrich Nietzsche geprägter Begriff, der für die Einheit von Leib und Seele sowie für Dynamik und Kreativität stand. Der Wandervogel wurde in der Nazi-Zeit entweder aufgelöst oder zwangsweise in die Hitlerjugend eingegliedert.
4. Romantik und Nationalismus
Die romantische Idee der deutschen Nation war anfangs stark geprägt von einem Zusammenspiel aus christlicher Religion und dem Ideal einer universalistischen und poetischen Kulturnation. Für Novalis spielten idealisierte Vorstellungen des christlichen Mittelalters mit der angeblich organischen Ordnung des Lebens durch die Religion eine wichtige Rolle. Mit "Heinrich von Ofterdingen" wollte Novalis den romantischen Mythos der Deutschen schreiben. Spätere Romantiker waren jedoch stärker nationalistisch geprägt.
5. Die Nationalisierung der Kornblume
Die Kornblume – eine von wenigen blauen Blumen – wurde im 19. Jahrhundert zum Symbol von Natürlichkeit. Nach dem Tod der jungen preußischen Königin Luise wurde sie zur "preußischen Blume" und Kaiser Wilhelm I. wie auch Otto von Bismarck erklärten sie zu ihrer Lieblingsblume. Später geriet die blaue Kornblume zum Symbol der deutschnationalen "Alldeutschen Bewegung", die starke antisemitische und antiliberale Tendenzen hatte und von Hitler in "Mein Kampf" erwähnt wurde.
6. Romantik in der NS-Zeit
Romantik, schreibt Rüdiger Safranski, "ist fast immer im Spiel, wenn ein Unbehagen am Wirklichen und Gewöhnlichen nach Auswegen, Veränderungen und Möglichkeiten des Überschreitens sucht".[3] Die Romantik betonte statt Selbstbestimmung und Normalität eher Urwüchsiges, Irrationales, Subjektivität, Trieb, Mythos und Gemeinschaft. So gesehen, war auch der Nationalsozialismus in mancherlei Hinsicht eine extreme Form der politischen Romantik.
7. Romantische 68er?
Die Bewegungen der späten 60er und frühen 70er Jahre stellten viele der kapitalistischen, konsumorientierten Tendenzen der westlichen Gesellschaft in Frage und lehnten sich mit ihren liberalen wie pazifistischen Werten auch an romantische Ideale an. Rousseau war plötzlich wieder in aller Munde, man verlangte Freiheit und impulsives Erleben und feierte eine Zeit der (erotischen) Versöhnung und Naturverbundenheit. Auch die Lebensreform- und Teile der Jugendbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts befanden sich mit den Hippies plötzlich wieder im Aufwind – genauso wie Werte von Gemeinschaft, Natur und poetischer Imagination. Doch auch hier bestanden Widersprüche: Zwar identifizierte sich die 68er-Bewegung mit romantisch-idealistischen Werten, doch lehnte sie den romantischen Eskapismus ebenso ab wie vor ihr der Nationalsozialismus.
8. Wo versteckt sich die blaue Blume heute?
Heute steht die blaue Blume weiterhin für Umweltfreundlichkeit: Auf der Webseite der Deutschen Bahn kann man über die Schaltfläche „Blaue Blume“ einen „UmweltMobilCheck“ durchführen und den Kohlendioxidverbrauch von Auto, Flugzeug und Bahn vergleichen. Auch die EU nutzt die Blaue Blume als Umweltzeichen. Immer noch steht sie aber auch für einen demokratieorientierten Öko-Idealismus, der im Gegensatz zu einem industriell, wirtschaftlich und technokratisch ausgerichteten Pragmatismus steht.[5]
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