Kapitelübersicht - Aufbrüche - Blauer Himmel über der Ruhr

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Willy Brandt    

Wege der Erinnerung

  1. Vorgeschichte
  2. Reformen der fünfziger Jahre
  3. Ein Gemeinwohlthema
  4. Ein lächerlicher Satz
  5. Eine verlorene Wahl - und eine bleibende Formulierung
  6. Noch fehlte das Umweltbewusstsein...
  7. Das Ruhrgebiet wird rauchfrei
  8. Ein Erinnerungsort der SPD
  9. Eine Erfolgsgeschichte...
  10. Verblasst der blaue Himmel?

 

Verwandte Themen

Elektrofilter; Die WaBoLu; Seveso ist überall; Das Umweltprogramm; Der Spiegel; Die Grünen

 

Literatur

Franz-Josef Brüggemeier, Thomas Rommelspacher, Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840-1990 (Essen: Klartext Verlag, 1992; Frank Uekötter, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880-1970 (Essen: Klartext Verlag, 2003).

 

Fußnoten

[1] Vorwärts Nr. 18 (3. Mai 1961), S. 20 Sp. 2.
 
[2] Bundesarchiv Koblenz B 136/5364, STBK an Bundesminister für Verkehr, 27. Juli 1960.
 
[3] Landeshauptarchiv Koblenz Bestand 930 Nr. 10319, Protokoll der 8. Sitzung des Wirtschafts- und Verkehrsausschusses, 11. November 1965, S. 42.

 

[4] http://www.nrw.de/landesregierung/ ministerpr-sidentin-staatskanzlei/ rede-blauer-himmel.html.

 

Bildnachweis

Foto: Willy Brandt.

"Der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden!" Das erklärte Willy Brandt in seiner Rede vor dem SPD-Parteitag zur Bundestagswahl 1961.[1] Brandt wurde damit zum ersten bundesdeutschen Spitzenpolitiker, der aus Umweltproblemen politisches Kapital zu schlagen suchte, und seine prägnante Formulierung ging ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik ein. Sie markiert den Beginn der symbolischen Umweltpolitik in Deutschland – zeigt aber auch, dass es von der symbolischen Besetzung des Themas bis zu einer effektiven Politik ein weiter Weg war.

 

 

1. Vorgeschichte

Die Formulierung stammt offenkundig aus einer Zeit, in der Luftverschmutzung noch unmittelbar sinnlich wahrnehmbar war. Rauch und Staub gehörten seit dem 19. Jahrhundert zur Industrialisierung und wurden mit durchaus variabler Entschlossenheit bekämpft. Nirgends war das Problem freilich massiver als im Ruhrgebiet, das für seine Staubbelastung geradezu berüchtigt wurde. Brandts Formulierung zielte mithin auf einen unstrittigen Missstand. Er war freilich nicht der erste, der sich um Abhilfe bemühte.

 

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2. Reformen der fünfziger Jahre

Seit 1952 gab es im Ruhrgebiet eine lebhafte Debatte über Luftverschmutzungsprobleme, nicht zuletzt, weil sich der Verbandsdirektor des Siedlungs­verbandes Ruhrkohlenbezirk Sturm Kegel des Themas annahm. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit und Soziales drängte seit Mitte der fünfziger Jahre auf Bundes- und Länderebene auf Veränderungen, und tatsächlich entwickelte sich daraus ein Reformprozess. Daran waren vor allem Insider in Verwaltung, Wissenschaft und Industrie beteiligt, was einerseits Reibungsverluste minimierte, aber andererseits kaum öffentlich sichtbar war. Das Bundeskanzleramt zeigte sich deshalb im Sommer 1960 unzufrieden und schlug eine Prüfung weiterer Maßnahmen an – "auch im Hinblick auf die kommenden Bundestagswahlen".[2]

 

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3. Ein Gemeinwohlthema

Die Offensive der SPD kam insofern nicht ganz unerwartet, und doch hätte sich ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat damals wohl kaum des Themas angenommen, wenn die Partei nicht zwei Jahre zuvor das Godesberger Programm verabschiedet hätte. Die SPD wollte nicht mehr Klientelpartei der Arbeiter sein, sondern breitere Bevölkerungskreise ansprechen – da bot sich die Luftverschmutzung als klassisches Gemeinwohlthema an.

 

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4. Ein lächerlicher Satz

Die Erinnerung an Brandts Formulierung verbindet sich zumeist mit dem Hinweis, man habe sich über den Satz lustig gemacht. Allerdings galt der Spott nicht dem Anliegen selbst, das politisch weithin unstrittig war. Vielmehr wurde der "blaue Himmel" zum Synonym einer leeren Politikerphrase ohne Substanz. Brandts SPD schien als Volkspartei ihre programmatischen Konturen zu verlieren, und ein Politiker, der sogar ganz wörtlich "das Blaue vom Himmel" versprach, bot vor diesem Hintergrund eine naheliegende Zielscheibe.

 

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5. Eine verlorene Wahl - und eine bleibende Formulierung

Bekanntlich verlor Brandt die Bundestagswahl 1961. Trotzdem ärgerte es die CDU, dass sich Brandt mit einer griffigen Formulierung des Themas bemächtigt hatte. Noch vier Jahre später schäumte der rheinland-pfälzische Abgeordnete Helmut Kohl in einer Ausschusssitzung, Brandt habe mit seiner Wahlkampfparole "einer allgemeinen politischen Hysterie" Vorschub geleistet.[3]

 

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6. Noch fehlte das Umweltbewusstsein...

Die Formulierung brannte sich stärker ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik ein als der Zeitkontext, dem sie entstammte. Die Erinnerung an die parteitaktischen Hintergründe der Formulierung (vgl. oben, Rubrik "Ein lächerlicher Satz") verblasste mehr und mehr, nicht jedoch das Wissen um den der Spott der Zeitgenossen. So entstand ein hartnäckiger Mythos: Die Menschen hätten die Formulierung 1961 belächelt, weil sie noch ganz ins Wirtschaftswachstum vernarrt waren und Umweltprobleme noch nicht ernst genommen wurden. Tatsächlich gab es längst einen parteienübergreifenden Konsens, dass die Luftreinhaltung verstärkter Anstrengungen bedurfte – bis in die siebziger Jahre wurden alle Immissionsschutzgesetze einstimmig verabschiedet. Die Umdeutung des Spotts spiegelte insofern die große Bedeutung, die dem korrekten "Umweltbewusstsein" in späteren Zeiten zugeschrieben wurde – und vielleicht auch eine Hoffnung, dass die Luft nur deshalb noch nicht sauber sei, weil man erst vor kurzem mit der Bekämpfung begonnen habe.

 

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7. Das Ruhrgebiet wird rauchfrei

Der blaue Himmel über der Ruhr blieb keine Utopie. Die Staubbelastung nahm seit 1961 dramatisch ab und ist inzwischen auf das Normalmaß eines großen Ballungsraums geschrumpft. Mit Brandts Parole hatte das freilich wenig zu tun, umso mehr mit Reformen in Politik und Verwaltung – eingeschlossen jene unauffälligen Reformen hinter den Kulissen, die Mitte der fünfziger Jahre begonnen hatten.

 

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8. Ein Erinnerungsort der SPD

Brandts Formulierung erlangte erneut an Bedeutung, als der SPD in den achtziger Jahren mit den Grünen eine parteipolitische Konkurrenz erwuchs. Es war eine Trumpfkarte gegen den Vorwurf einer ökologischen Vergessenheit in der Sozialdemokratie. Hatte die SPD nicht schon 1961 für eine saubere Umwelt gekämpft? Brauchte es deshalb auf der politischen Linken eine ökologische Alternative? Das Argument konnte den Aufstieg der Grünen nicht auf Dauer bremsen – aber vielleicht lag es doch auch ein wenig an Brandts "blauem Himmel", dass die Grünen in Nordrhein-Westfalen lange Zeit schwach blieben und erst 1990 ganz knapp den Sprung in den Landtag schafften. 2011 nutzte die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft das 50jährige Jubiläum für eine Rede unter dem Titel "Vom Blauen Himmel über der Ruhr zum Blauen Planeten".[4]

 

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9. Eine Erfolgsgeschichte...

Es gab wohl noch einen zweiten Grund, warum Brandts Formulierung in den achtziger Jahren in Erinnerung gerufen wurde. Die ökologische Stimmung verband sich seit den siebziger Jahren verstärkt mit drastischen Horrorszenarien – von den "Grenzen des Wachstums" über "Seveso ist überall" und das Waldsterben bis zum nuklearen GAU. Der "blaue Himmel über der Ruhr" war hingegen eine positive, hoffnungsvoll stimmende Formulierung: Veränderung war tatsächlich möglich! In einer Zeit, in der die ökologische Krise übermächtig zu werden drohte, war das ein hilfreiches Signal.

 

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10. Verblasst der blaue Himmel?

Willy Brandt starb am 8. Oktober 1992. Im gleichen Jahr wurde auf dem Erdgipfel von Rio de Janeiro die Klimarahmenkonvention unterzeichnet, mit der die Treibhausgasemissionen zum Gegenstand einer weltumspannenden Klimadiplomatie wurden. Diese Emissionen sind unsichtbar – der blaue Himmel scheint damit als ökologische Zielvorstellung am Ende seiner Möglichkeiten zu sein. Dabei bleiben Rauch und Staub weiterhin Herausforderungen der Umweltpolitik, insbesondere in den Ländern des Globalen Südens. Allerdings wird dies im Rahmen der Klimadebatte bislang nur selten thematisiert. So ist der Blaue Himmel inzwischen auch eine Erinnerung daran, wie sehr sich die Prioritäten der Umweltpolitik verändern können.

 

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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Frank Uekötter

 

Online seit 2011

 

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Empfohlene Zitierweise: Frank Uekötter, Erinnerungsort "Blauer Himmel über der Ruhr", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/aufbrueche/78-blauer-himmel-ueber-der-ruhr.