Vollkornbrot
Kapitelübersicht - Lebensweisen - Vollkornbrot
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Wege der Erinnerung
Verwandte ThemenVegetarismus, Vom Reformhaus zum Bioladen, Sebastian Kneipp
LiteraturJudith Baumgartner, Ernährungsreform, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998, S. 115-126.
Jörg Melzer, Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch. Stuttgart 2003.
Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880-1930. Stuttgart 2003.
Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, in: Comparativ 11, 1 (2001), S. 27-50.
Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19. / 20. Jahrhundert. Stuttgart 2004.
Fußnoten[1] Deutsches Institut für Normung e.V., DIN 10355, Mahlerzeugnisse aus Getreide. Berlin 1991, S. 2.
[4] Theodor Hahn, Die naturgemäße Diät, die Diät der Zukunft. Cöthen 1871 zitiert nach Jörg Melzer, Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch. Stuttgart 2003, S. 84.
[5]Max Bircher-Benner, Grundzüge der Ernährungstherapie. Berlin 1909, S. 23.
[6] Ders., Die Geschichte zweier Familien, in: Der Wendepunkt 1 (1924), S. 509f.
[7] Mikkel Hindhede, Die neue Ernährungslehre. Dresden 1922, S. 65.
[8] Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, in: Comparativ 11, 1 (2001), S. 27-50.
[9] Zu Kollath vgl. Melzer, Vollwerternährung, S. 207-234.
[10] Peter Brügge, Des deutschen Sohnes Über-ich. Peter Brügge über den Münchner Schulpsychologen Robert Burger, in: DER SPIEGEL 51 (1970), S. 94.
[11] Martin Morlock, Ziesemann machtʼs möglich, in: DER SPIEGEL 26 (1964), S. 50-52; S. 51.
[12] Karl Friedrich Wernet, Wettbewerbs- und Absatzverhältnisse des Handwerks in historischer Sicht, Bd. 1: Nahrung, Getränk, Genußmittel. Berlin 1967, S. 53f.
[13] Maria Gerber, Das essen die Deutschen. URL: http://www.welt.de/print/ die_welt/wissen/article10308549/ Das-essen-die-Deutschen.html vom 15.10.2010 (aufgerufen am 02.05.2012).
[14] Philipp Kohlhöfer, Deutsche Heiligtümer: Schwarz-Rot-Brot. URL: http://einestages.spiegel.de/ static/topicalbumbackground/999/ schwarz_rot_brot.html vom 19.12.2007 (aufgerufen am 24.04.2012).
[15] Nationalheiligtum Vollkornbrot. Unsere dunkle, körnige Seele. URL: http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/nationalheiligtum-vollkornbrot -unsere-dunkle-koernige-seele -a-423885.html vom 27.06.2006 (aufgerufen am 12.04.2012).
BildnachweisFoto: Zyance. |
Mate-Tee, Reiswaffeln und Naturkosmetik – was noch vor einigen Jahrzehnten als wenig ernstzunehmender Idealismus belächelt wurde, gehört mittlerweile zum guten Ton: Organic Cotton, Carsharing, Urban Gardening und Öko-Strom. Der aufgeklärte Verbraucher von heute, egal ob Hausfrau oder Akademiker, kann es sich kaum mehr leisten, sein Bewusstsein um Gesundheit und Nachhaltigkeit nicht öffentlich zu leben. Und immer mit dabei: das gute, alte Vollkornbrot.
1. Vorgeschichte
Was aber heißt Vollkorn eigentlich? Laut Gesetzgeber werden hiermit alle Produkte, die mindestens zu 90 % aus Vollkornmehl bestehen, beschrieben. Dem verarbeiteten Getreide dürfen dabei lediglich die Grannen und Spelzen entfernt werden. Ballaststoffe, Vitamine, Öle und Mineralstoffe bleiben in der Kleie und dem Keimling erhalten.[1]
2. Brot als soziales Distinktionsmerkmal
Man ist, was man isst – und umgekehrt. Neben der Ernährung dienen Lebensmittel gleichzeitig auch immer der Repräsentation. Nahrung fungiert daher auch als Mittel der Abgrenzung bzw. soll eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit zeigen [Vegetarismus].
3. Zurück zur Natur - mit Brot!
Der eigentliche Aufstieg des Vollkornbrots begann im 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt war die Annahme, dass ein harmonisches Leben mit der Natur die Garantie für Gesundheit sei. Als Begründer dieser These gilt der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen Appell "Retournez à la nature" zur Doktrin allen Handelns erhoben wurde: "Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen der Menschen."[3] Die voranschreitende Zivilisation wurde in Opposition zur Natur gesetzt. Demnach galt auch das unbehandelte, dunkle Mehl als das gesündere. Vollkornbrot avancierte zum Heilmittel gegen die vermeintlichen "Zivilisationsschäden".
4. Vollkornbrot: natürlich und wirtschaftlich
Das Paradigma der Rückkehr zu einer "naturgemäßen Lebensweise" galt auch innerhalb der Ernährung – umso mehr da im 19. Jahrhundert die industrielle Herstellung von Nahrungsmitteln zunehmend prominenter wurde. Auch Lebensmittelskandale, bei denen dunkles Mehl mit Alaun und Chlor gebleicht worden war, ließen das Vollkornbrot attraktiver werden.
5. Brot als Politikum
Aufgrund der Hunger-Erfahrung während des Ersten Weltkriegs wurde die Brotfrage in den 20ern und 30ern zum Politikum, im Zuge dessen auch das Vollkornbrot besondere Relevanz gewann. Es wurde die Ansicht vertreten, dass wenn die Viehzucht verringert und das Futtergetreide zur Vollkornbrotherstellung verwendet worden wäre, Deutschland nicht den Krieg verloren hätte.[7]
6. Braunes Brot und braunes Erbe
Nach 1945 reichte die Entwicklungslinie des Vollkornbrots von personellen und inhaltlichen Kontinuitäten aus dem Dritten Reich bis zu neuen komplexen Betrachtungen von Ernährungssystemen. Einer der Namen, der sowohl für die NS-Zeit als auch danach für das Vollkornbrot steht, ist Werner Kollath. Noch heute gilt Kollath mit seinem Standardwerk "Die Ordnung unserer Nahrung" von 1942 als der Begründer der Vollwertlehre. Seine Sympathie mit der nationalsozialistischen Weltanschauung und NS-Karriere als Hygieniker und Ernährungsforscher werden weitgehend ausgeblendet. Da er aufgrund seiner Vergangenheit aus dem universitären Bereich ausscheiden musste, forschte er selbstständig mit der Unterstützung der Familie Bahlsen an der Verbesserung der Ernährungslage. Weiterhin galt ihm die Bewahrung eines "vollwertigen Volkes", seines "Arbeitswerts" und seiner Erbanlagen als Ziel. Den größten Anklang fand Kollath innerhalb der Naturheilkunde und des Reformhaus-Kreises, wo seine Produkte seit 1951 vertrieben wurden. Neben Ehrungen seitens der Internationalen Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung e.V. und dem Arbeitskreis Gesundheitskunde gratulierte ihm auch der Bundespräsident Heinrich Lübke 1967 zum Lebenswerk.[9]
7. Masse statt Klasse?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schien es aber zunächst so, als sei die Zeit des Vollkornbrots vorbei: Nachdem der Hunger überwunden war und man zwischen einem größeren Angebot von Lebensmitteln wählen konnte, kam es in den 50er Jahren zur sogenannten "Fresswelle". Das schnöde Vollkornbrot verlor zunehmend an Attraktivität. Dafür stieg der Konsum an Weißbrot und Weizenkleingebäck. 1958 stellte man fest, dass der Verbrauch an Vollkornbrot seit 1938 um ein Sechstel zurück gegangen war.[12] Gleichzeitig setzte eine Umstrukturierung des ländlichen Raums ein. Die wachsende Zahl von Selbstbedienungsmärkten ermöglichte jetzt, jeden Tag frisches Weißbrot zu kaufen. Das wöchentliche Selbstbacken wurde damit überflüssig. Und auch das Interesse an speziellen Ernährungsphilosophien war eher verhalten. Was zählte war Masse und die Kompensation von bisher Versäumtem.
8. Brot als ökologisches und soziales Statement
Erst in den 1970er Jahren wurde gesunde Ernährung wieder zu einem öffentlich diskutierten Thema, das seine Ursprünge in der Alternativen Szene hatte. Im Rahmen der Öko- und Umweltbewegung der 80er Jahre erlebte das Vollkornbrot ein Comeback. Der Siegeszug der Bioprodukte ins Supermarktregal hatte begonnen. In dieser Zeit entdeckten auch die Industrie-Bäckereien und Chemiekonzerne wie Boehringer die Biowelle als Marktnische und begannen Fertigmischungen für Vollkornbrot herzustellen.
9. "Schwarz-Rot-Brot"
Es scheint allerdings so, als würde neben dem Gesundheitsaspekt und Lebensgefühl das Vollkornbrot noch eine andere Funktion verkörpern. Es gibt nämlich kaum etwas, bei dem sich die Deutschen so einig sind wie beim Brot. Man ist stolz darauf und nicht selten wird mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl das Brot der Nachbarn mitleidig belächelt. Mit 300 verschiedenen Brotsorten und einem jährlichen Verzehr von ca. 80 Kilo pro Person verweist man gerne auf die weltweite Spitzenrolle. Angeblich ist es auch das Brot, das die im Ausland lebenden Deutschen am meisten vermissen: "Heimweh nach Brot"[13] ist wohl ein typisch deutsches Gefühl. Also Deutschland einig Brotnation?
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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Sarah Waltenberger Online seit 2012
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Empfohlene Zitierweise: Sarah Waltenberger, Erinnerungsort "Vollkornbrot", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/lebensweisen/66-vollkornbrot.