Wege der Erinnerung
- Vorgeschichte
- Grünes Eldorado: Der bereiste und erforschte Regenwald
- Der bedrohte Regenwalds
- Hegemoniale Regenwaldbilder
- Persistenz und Problematik eines ökologischen Sehnsuchts- und Erinnerungsortes
Verwandte Themen
Waldsterben, Nachhaltige Waldwirtschaft, Entgrenzungen des Holzhandels, Der Nationalpark Bayerischer Wald, Die Lüneburger Heide
Literatur
Fußnoten
[1] Seth Garfield, In Search of the Amazon. Brazil, the United States, and the Nature of a Region, Durham 2014, S. 15.
[2] Willi Bolle, Edna Castro, Marcel Vejmelka, Amazonien: Weltregion und Welttheater. Berlin 2010, S. 55.
[3] Michael Flitner, Sammler, Räuber und Gelehrte. Die politischen Interessen an pflanzengenetischen Ressourcen 1895-1995. Frankfurt am Main 1995, S. 296.
[4] Klaus-Dieter Hupke, Der Regenwald und seine Rettung. Zur Geistesgeschichte der Tropennatur in Schule und Gesellschaft. Dortmund 2000, S. 128.
[5] Josef H. Reichholf, Der tropische Regenwald. Die Ökobiologie des artenreichsten Naturraums der Erde. München 1990, S. 187.
[6] John O. Browder, Brian J. Godfrey, Rainforest Cities: Urbanization, Development, and Globalization of the Brazilian Amazon. New York 1997.
[7] Klaus-Dieter Hupke, Der Regenwald und seine Rettung. Zur Geistesgeschichte der Tropennatur in Schule und Gesellschaft. Dortmund 2000, S. 335.
[8] Michael Flitner, Gibt es einen 'deutschen Tropenwald'? Anleitung zur Spurensuche, in: Michael Flitner (Hg.), Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Frankfurt am Main 2000, S. 12.
[9] Edilson Martins, Chico Mendes: um povo da floresta. Rio de Janeiro 1998, S. 17.
Bildnachweis
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"Amazonien ist eine Region, die sich an das Moderne gewöhnt hat. In den letzten 400 Jahren ihrer Geschichte hat sie schließlich die modernsten Methoden der Ausbeutung kennengelernt." (Márcio Souza, Schriftsteller aus Manaus, 1990: 13)
"Der ständige, schreiend laute Motorenlärm [...] war für mich, der ich mich gesehnt hatte, aus der Zivilisation endlich einmal wieder in den 'Urwald' zurückzukehren, einfach Nerven zermürbend, in seiner pausenlosen Kontinuität ein absolut grausamer Gegensatz zum Wesen der amazonischen Natur. Er kam mir geradezu wie ein Ausbund brutalster Kräfte vor, die sich anschickten, die gewachsene Harmonie und innere Sicherheit der majestätischen und lebensvollen amazonischen Landschaft gefühllos zu vernichten.“ (Harald Sioli, Biologe, 2007 [1942]: 201)
Wälder haben die Menschen seit jeher fasziniert. Nachdem viele ehemals zusammenhängende Waldgebiete in den meisten Regionen der Welt im Verlauf der Geschichte gerodet, beherrscht und zu einem grünen Flickenteppich degradiert wurden, scheint die alte Erzählung vom mächtigen und bedrohlichen Wald schon seit Längerem nicht mehr zeitgemäß zu sein. Nicht verwunderlich also, dass der europäische Blick auf der Suche nach dem Sehnsuchts- und Erinnerungsort Wald sich früh auf andere Gegenden verlagert hat. Das Ergebnis dieser Blickwanderung ist eine bis heute ungebrochene Begeisterung für einen bestimmten Waldtypus: den tropischen Regenwald. Dabei hat sich seit den 1970er Jahren gezeigt, dass mit Regenwald in unseren Breiten in erster Linie die immensen Waldgebiete des südamerikanischen Amazonasbeckens gemeint sind. Seit der spanisch-portugiesischen Eroberung Lateinamerikas hat sich die Schwärmerei für jene Region in unzähligen Reiseberichten, Mythen, wissenschaftlichen Abhandlungen, staatlichen Erschließungsvisionen, Romanen, Dokumentarfilmen und ökologischen Kampagnen manifestiert. Dabei ist auffallend, dass sich bestimmte Leitmotive in den unterschiedlichsten Medien zeit- und ortsunabhängig wiederfinden lassen.
Ein erstes Leitmotiv ist im Superlativ zu finden. Ohne Zweifel handelt es sich beim amazonischen Regenwald um einen Rekordhalter in vielerlei Hinsicht. Fläche, Wassermenge, Flusssystem, Biodiversität – in allen Disziplinen stellt er andere Waldregionen in den Schatten. Gewiss ist es auch jener Platz auf dem Thron, der für die Herausbildung weiterer Leitmotive maßgeblich verantwortlich ist. Ein Beispiel wären die eng miteinander zusammenhängenden Erzählungen vom "letzten Paradies auf Erden" und der "grünen Hölle". Dieses Begriffspaar taucht seit Jahrhunderten immer wieder auf, wenn es darum geht, die Amazonasregion und ihre Bedeutung für die Menschheit zu beschreiben. Eine weitere zentrale Assoziation ist die Legende von Eldorado. Jenen Ort von sensationellem Reichtum vermutete man seit Anbeginn der Kolonialzeit in den entlegensten Winkeln Amazoniens.
Es zeigte sich früh, dass jede noch so ausschweifende und mythenbildende Faszination in der Regel von ziemlich rationalen und weltlichen Motiven angetrieben wurde. Vom fieberhaften Streben der Spanier nach materiellem Reichtum (Eldorado) über die staatlichen Erschließungsvisionen in Brasilien ("Raum ohne Volk für ein Volk ohne Raum") bis zur ökologischen Sorge um das globale Klima ("Lungen der Erde"): die Eingangspforte zur Ideenwelt Amazoniens waren stets konkrete Interessen. Ihrem Selbstverständnis nach schien die ökologische Regenwalddebatte von jeglichem Eigeninteresse befreit zu sein, da sie sich in den Dienst des gesamten Menschheit oder des gesamten Planeten stellte. Die internationale Diskussion um Amazonien gewann während der massiven Abholzungen in den 1980er Jahren rasch an Aufwind. Einige Jahre lang schien der brasilianische Regenwald die Gemüter in manchen Industrieländern mehr zu bewegen als irgendein anderer Raum.
Die Forderung "Rettet den Regenwald" wurde in den ökologischen achtziger Jahren der Bundesrepublik zu einem zentralen Slogan der Umweltbewegungen. Brettspiele, Dokumentationen und Riesenposter trugen den Regenwald in zahlreiche Kinderzimmer und popularisierten ein politisches Thema, das bis dahin in erster Linie unter Experten diskutiert worden war. Gerade die Regenwalddebatte in vermeintlich neuem Gewand offenbarte am Beispiel ihrer kulturellen Repräsentationen ein Sammelbecken an Leitmotiven und Ideen, deren Wurzeln tief in die europäische Geistesgeschichte hineinreichen. Durch die Ergründung dieser Zusammenhänge kann erklärt werden, warum der Regenwald tausende von Kilometer entfernt zu einem wirkmächtigen ökologischen Erinnerungsort in Ländern wie Deutschland wurde und mit welchen Implikationen, Widersprüchen und Problemen dies einherging.
1. Vorgeschichte
Um 1500, als der Spanier Vicente Yáñez Pinzón als vermutlich erster Europäer die Mündung des Amazonas erreichte, lebten an den Ufern der großen Flüsse in der gesamten Amazonasregion schätzungsweise 4 bis 5 Millionen Indigene.[1] Pinzón wähnte sich angesichts der endlosen Wassermassen ohne Land am Horizont auf einem Meer und wunderte sich über das süße Wasser, das er dort vorfand. Aus diesem Grund gab er dem zufällig entdeckten Fluss den Namen Santa María de la Mar Dulce (Heilige Maria des Süßen Meeres). Jener Moment der Entdeckung markierte gleichzeitig den von nun an einsetzenden Niedergang der indigenen Kulturen Amazoniens. Durch Versklavung, Ermordung und eingeschleppte Krankheiten wurde die einheimische Bevölkerung bis an den Rand der Ausrottung gedrängt. 1541/42 unternahm der spanische Eroberer Gonzalo Pizarro zusammen mit Francisco de Orellana von Peru aus schließlich eine Expedition auf der Suche nach dem legendären Eldorado und dem sogenannten "Zimtland", um die Region für die anschließende Kolonisation zu erkunden. Die Expedition scheiterte früh und die Gruppe erlitt zahlreiche Rückschläge und Verluste. In dieser Not sollte Orellana deshalb mit einem Teil der Expedition auf der Suche nach Verpflegung den Fluss Napo hinunter segeln. Von dieser Erkundungsfahrt kehrte er allerdings nicht zurück und durchquerte stattdessen als erster Europäer den großen Hauptstrom des Amazonasbeckens von den Anden bis zu seiner Mündung. Am Ende dieser gescheiterten Suche nach einem legendären Ort sollte eine neue Legende von fortdauernder Strahlkraft stehen. Angeblich war die Gruppe abenteuerlustiger Männer auf ihrer beschwerlichen Reise von bewaffneten und mannshohen indigenen Kriegerinnen angegriffen worden, weshalb sich Orellana für jenen Fluss einen neuen Namen einfallen ließ, den er der griechischen Mythenwelt entlehnt hatte: Amazonas. Die von dem Dominikanermönch Gaspar de Carvajal verfasste Chronik jenes Abenteuers steht am Anfang einer nicht enden wollenden Legendenbildung um die Region und ihre Mysterien. Und so trieb der Traum vom schnellen Reichtum in den darauffolgenden Jahrhunderten unzählige Abenteurer in die Region. Während der Kolonialzeit war Amazonien in erster Linie durch den Handel mit den sogenannten drogas do sertão (insbesondere Tee und Gewürze) mit den Handelszentren an der Atlantikküste verbunden. Während dort der auf Sklavenarbeit basierende Plantagenanbau mit seinen Monokulturen (insbesondere Zucker, Kakao, Kaffee) vorherrschte, wurde in Amazonien bis in das 20. Jahrhundert hinein in erster Linie Extraktionswirtschaft betrieben. Zwischen 1870 und 1910 war der Kautschukboom die für die Region prägendste Form dieser Wirtschaftsform. Während dieser Zeit rückte Amazonien für ein halbes Jahrhundert ins Zentrum der globalen Wirtschaft, da der dort gewonnene Kautschuk enorm wichtig war für die rapid wachsende Automobilindustrie und andere Industriezweige. In der Folge entwickelten sich Städte wie Manaus und Belém innerhalb kürzester Zeit zu modernsten Metropolen mit elektrischer Lichtversorgung, Straßenbahnen, Opern und Theatern nach europäischem Vorbild. Nachdem es den Briten 1876 schließlich gelungen war, Kautschuksamen aus der Region zu schmuggeln und in ihren südostasiatischen Kolonien als Monokulturen zu kultivieren, war das brasilianische Monopol schnell gebrochen. Der darauffolgende wirtschaftliche Niedergang Amazoniens vollzog sich rasch und die Region verschwand aufs Neue in der ökonomischen Bedeutungslosigkeit. Noch während der Hochphase des Kautschuks tauchte im Jahr 1898 zum ersten Mal in einem deutschen Wörterbuch der botanische Begriff "Regenwald" auf, welcher später dann als Rainforest ins Englische übertragen wurde. Bis heute ist er für viele Menschen die gängige Bezeichnung für Tropische Feuchtwälder.
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2. Grünes Eldorado: Der bereiste und erforschte Regenwald
Lange Zeit war es den wenigsten europäischen Reisenden vergönnt gewesen, die Amazonasregion auf eigene Faust kennenzulernen. Deshalb standen von Anfang an einzelne Personen im Zentrum, die mit ihren Reiseberichten das einzig verfügbare Wissen über den Amazonas generierten. Am Anfang dieser Wissenskonstruktion standen Missionare und Entdecker im Auftrag der spanischen und portugiesischen Krone. Während der Kolonialzeit herrschte darüber hinaus strengste Zensur und sämtliche Werke zu den lateinamerikanischen Kolonien durften erst nach genauester Überprüfung veröffentlicht werden. Dies befeuerte die Mythenbildung um die Amazonasregion noch zusätzlich und weckte die Begehrlichkeiten anderer europäischer Mächte. Franzosen und Engländer organisierten ebenfalls Erkundungsfahrten von Guayana aus. Ein prominenter Fall war die Expedition des Engländers Sir Walter Raleigh, der sich 1595 auf die Suche nach der goldenen Stadt Manoa machte, um das von den Spaniern vielfach heraufbeschworene Eldorado zu finden. Die erste im engeren Sinne wissenschaftliche Expedition fand zwischen 1743 und 1745 statt, unter der Leitung des Franzosen Charles Marie de la Condamine. Er hinterließ eine umfangreiche botanische Sammlung mit zahlreichen Beschreibungen und befeuerte den europäischen Handel mit lokalen Produkten. De la Condamine erstellte auch die erste detailliertere Karte Amazoniens, die auf einer Vorlage des Jesuiten Samuel Fritz basierte.[2] Gegen Ende des 18. Jahrhunderts fanden schließlich die Expeditionen von Humboldt und Aimé Bonpland statt, deren Einfluss auf das spätere Wissenschafts- und Tropenverständnis nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Weitere Naturalisten folgten, angetrieben von dem Wunsch, unbekannte Gebiete zu vermessen und zu kartographieren, Fauna und Flora exemplarisch zusammenzutragen und zu kategorisieren. Bürgerliches Selbstverständnis, Abenteuerlust und Geltungsdrang spielten bei diesen Unternehmungen eine große Rolle. Die große Reisebewegung europäischer Naturforscher (Charles Darwin, Henry Bates, Richard Spruce, Alfred Wallace, Karl von Martius und Johann von Spix) setzte jedoch erst nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts ein, da diese sich weniger restriktiv im Umgang mit fremden Forschern zeigten. Jene Wissenschaftler prägten durch ihre Reiseerfahrungen, Sammlungen und Abhandlungen das europäische Wissen über die Region, das nun auch zunehmend der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Der tropische Regenwald eignete sich bestens als Idealbild einer üppigen und faszinierenden Natur, die es zu untersuchen und zu verstehen galt. Hinter der Fassade des universellen, wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns stand jedoch auch stets das ökonomische Interesse der jeweiligen (staatlichen) Auftraggeber. Ebenso gemeinsam war den meisten Forschern, dass bei ihren Berichten und Abhandlungen auch immer mehr oder weniger stark Rousseaus Idee vom "Edlen Wilden" mitspielte. Diese Vorstellung ging in der Regel auch mit einer gewissen Abwertung und Geringschätzung gegenüber der indigenen Lebensweise einher. Vor dem Hintergrund der Industrialisierung eignete sich der noch "ursprüngliche", noch nicht vom Zivilisationsprojekt imprägnierte Regenwald zunehmend als idealer Gegenentwurf zur entzauberten Moderne Europas. Dabei implizierte der selbstlose Verweis auf das "Natürliche", "Wilde", „Einmalige" und "Unerschlossene" auch immer einen selbstbezogenen Erforschungsauftrag, auf den im nächsten Schritt die Entwicklungsaufgabe folgen musste.[3] In diesem Kontext ist die bis heute immer wieder geäußerte Forderung zu verstehen, dass der Tropenwald erforscht und verstanden werden müsse. Demnach begründen sämtliche Wissenschaftler die Einmaligkeit und das Schutzbedürfnis der Region in der Regel mit deren Bedeutung für ihre jeweilige Disziplin. Anthropologen und Linguisten betonen die kulturelle und sprachliche Vielfalt der indigenen Völker, wohingegen Botaniker, Ökologen, Zoologen und Biologen die Vielfalt und Komplexität der Flora und Fauna hervorheben. Demnach stand bei dem bereisten und erforschten Regenwald weniger als bei anderen Natur- und Kulturräumen die idealisierte Erfahrung des Naturidylls im Vordergrund. Hierfür sorgte der Regenwald selbst, indem er so manchen Europäer mit seinen für Menschen aus gemäßigten Regionen oftmals widrigen Eigenschaften in die Schranken verwies und Einige auch auf der ästhetischen Ebene enttäuschte. Aus der Nähe betrachtet zeigte sich der Regenwald vielen Europäern oft als monotoner Raum, in dem sich charismatische Tiere äußerst selten zu erkennen gaben. Trotzdem bewahrte sich das grüne Dickicht Amazoniens bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auch immer etwas Dämonisches und Bedrohliches, bis schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg ein entscheidender Bedeutungswandel einsetzte. Wald und Tiere hatten den nun zur Verfügung stehenden technischen Mitteln des Menschen nichts mehr entgegenzusetzen und der Mensch wurde zur alles überragenden und alleinigen Bedrohung.[4] Dies war gewissermaßen die Geburtsstunde des verletzlichen, bedrohten Regenwaldes, wie wir ihn heute in Europa kennen. Geburtshelfer waren vor allem einzelne Wissenschaftler, die ihre Sorge um jenes Ökosystem bereits ab den 1960er Jahren zu Papier gebracht hatten und persönliche Bedenken ihren wissenschaftlichen Studien zunehmend an die Seite stellten. Ab den 1970er Jahren wurden jene kritischen Stimmen aus der Wissenschaft auch vermehrt von den Massenmedien aufgenommen, die das Thema in die Öffentlichkeit trugen. Dazu kam ein immer intensiverer Austausch zwischen einzelnen Wissenschaftlern und den entstehenden Umweltgruppen. Wissenschaftler und Umweltbewegte traten dabei oftmals in Personalunion auf, was den Aufstieg des Regenwaldes zum globalisierten Sinnbild der ökologischen Krise begünstigte. Wenngleich jener Regenwald nun sein Bedrohungspotenzial verloren hatte, spielten die jahrhundertealten Leitmotive nach wie vor eine Rolle - insbesondere bei populärwissenschaftlichen Autoren. Und so stolpert man bei Josef H. Reichholfs Buch über die Ökobiologie Amazoniens über verheißungsvolle Kapitel wie "merkwürdige Frösche", "Panzerechsen und Riesenschlangen" oder "Singende Fische": "Reichtum oder Mannigfaltigkeit" des Ökosystems Regenwald sind nun "über die Diversitätsformel messbar", wobei die alte Idee von Eldorado unter grünem Anstrich weiterlebt.[5]
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3. Der bedrohte Regenwald
Wie kam es also, dass heutzutage in den meisten westlichen Industrieländern eine so direkte und allgemein gültige Verbindung zwischen dem Regenwald und seiner globalen Bedeutung, bzw. dem daraus resultierenden Schutzbedürfnis besteht? Zunächst ist klarzustellen, dass dieses Phänomen nicht überall gleich ausgeprägt ist, zeitabhängig unterschiedliche Formen aufweist und auch keineswegs in allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen eine Rolle spielt. Aus diesem Grund wird hier in erster Linie auf die umweltbewegte und mediale Regenwalddebatte in der Bundesrepublik Deutschland eingegangen. Ebenso verkehrt wäre es, sämtliche Tropenwälder der Welt bei der Beschreibung und Analyse ihrer Transformationen zusammenzufassen. Die Problemlagen und Ursachen unterscheiden sich regional teilweise stark voneinander, weshalb der Fokus hier vor allem auf die Amazonasregion Brasiliens gelegt wird. Beginnen wir mit den Ursachen. Unter dem Banner der exportorientierten Wirtschaft und der Nationalen Sicherheit begann das brasilianische Militärregime ab Mitte der 1960er Jahre mit der massiven infrastrukturellen Erschließung und Kolonisierung der Amazonasregion. Bereits mehr als zehn Jahre zuvor hatte der damalige brasilianische Präsident Getúlio Vargas mit Blick auf Amazonien den "Marsch nach Westen" ausgerufen. Als Brasília dann 1960 im Hinterland als neue Hauptstadt errichtet wurde, wurde das neu entstandene politische Zentrum durch eine Fernstraße mit der nordöstlichen Hafenstadt Belém verbunden. Dadurch war die Amazonasregion zum ersten Mal per Landweg an die wirtschaftlichen Zentren Brasiliens angeschlossen. Die daran anschließende staatliche Erschließung und Entwicklung der Region wurde vor allem mithilfe von steuerlichen Begünstigungen und anderen finanziellen Anreizen gegenüber in- und ausländischen Investoren gefördert. Die staatlichen Kolonisierungs- und Erschließungsprojekte orientierten sich in ihrem Kern an der Westexpansion der Vereinigten Staaten während des 19. Jahrhunderts. Für die technokratischen Strategen Brasiliens hielt die Region in erster Linie große Mengen an verfügbarem Raum bereit. Jene Erschließungsprogramme der brasilianischen Regierung führten dazu, dass das Interesse am dortigen Tropenwald ab den 1970er Jahren im In- und Ausland rapide anstieg. Ein weiterer entscheidender Grund für die Fokussierung auf Amazonien sind die Netzwerke der deutschen Solidaritäts- und Dritte Welt-Gruppen. Seit den 1970er Jahren Jahre gab es bei der bundesdeutschen Linken ein starkes Interesse an den politischen Kämpfen in Lateinamerika, so dass die Vernetzung mit Aktivisten und Journalisten vor Ort leichter fiel als in anderen Tropenregionen. Dies ebnete den Weg für die spätere umweltpolitische Prominenz Amazoniens. Zwischen 1987 und 1992 kommt es schließlich zur Hochphase der Regenwalddebatte, was sowohl mit den in dieser Zeit enorm hohen Abholzungsraten zu tun hat als auch mit den internationalen Diskussionen um den sogenannten Treibhauseffekt und dem Ozonloch. Der Regenwald wird nun als klimatischer Regulationsraum zum zentralen Faktor. In den 1990er Jahren stagniert das Interesse am Regenwald, ist nun aber fester Bestandteil des öffentlichen Umweltinteresses. Manche Themen entwickeln innerhalb der deutschen Umweltbewegung scheinbar eine Eigendynamik und entfernen sich von den vielschichtigen Problemlagen vor Ort. So ist um 1988/89 die Forderung nach einem Tropenholzboykott in aller Munde. Petra Kelly nutzt ihre Bekanntheit, um über die Medien zum Verzicht auf Tropenholz in staatlichen Einrichtungen aufzurufen. Ob die Grünen, der Deutsche Naturschutzring oder Greenpeace Deutschland – alle scheinen im Tropenholzhandel eine zentrale Triebkraft der Regenwaldzerstörung ausgemacht zu haben. Ein anderer Grund für die Dominanz dieses Kausalzusammenhangs war wohl auch die Tatsache, dass die Forderung nach Tropenholzboykott klare Handlungsstrategien implizierte, indem der deutschen Öffentlichkeit suggeriert wurde, dass sie direkten Einfluss auf das Geschehen vor Ort nehmen könnte. Dabei spielte der Holzhandel im Kontext der Konfliktfelder Amazoniens eher eine Nebenrolle. Vielmehr war es das Voranschreiten der großflächigen Landwirtschaft und die Rinderzucht, welche eine zentrale Rolle spielten. Gegen beide Prozesse ließ sich aber von Deutschland aus weniger unternehmen als beim Tropenholzboykott. Dramatische Bildlandschaften von riesigen, abgeholzten Baumstümpfen ließen sich auch ganz gut mit den kahlen Wipfeln des deutschen Waldsterbens in Verbindung setzen, woraus sich in den 1980er Jahren ein wirkmächtiges und emotionales Feld ergab. Vielleicht ließe sich durch diese Verknüpfung zwischen der Sorge um den Regenwald und der um den deutschen Wald auch erklären, weshalb Amazonien überhaupt vordergründig als Wald wahrgenommen wird. Demnach taucht die ebenfalls folgenreiche Kontaminierung der amazonischen Gewässer bis heute auf der Agenda der Umweltbewegungen und medialen Berichterstattung eher selten auf. Der Wald ist das, was als Bild wirkt. Komplexe Ursachen wie saurer Regen können im deutschen Kontext diskutiert werden, die Kontamination der Amazonasflüsse hingegen scheint nicht greifbar zu sein. Dabei haben der Einsatz von Quecksilber beim Goldwaschen und landwirtschaftliche Pestizide über die Trinkwasserzufuhr zahlreiche Menschen erkranken lassen oder gar das Leben gekostet. Die ehemalige brasilianische Umweltministerin Marina da Silva (2003-2008) gilt als eines der prominentesten Opfer dieser massiven Umweltprobleme. Im globalen Maßstab betrachtet war der Tropenholzhandel in erster Linie eine asiatische Angelegenheit, mit den produzierenden Ländern wie Malaysia oder Indonesien auf der einen und den konsumierenden Industrieländern wie Japan auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund verfolgten jene Boykottforderungen zwar gute Absichten, überschätzten jedoch ihre Einflusssphäre und missinterpretierten die Relevanz dieses Zusammenhangs im Kontext Amazoniens.
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4. Hegemoniale Regenwaldbilder
Es ist die ewig wiederkehrende Perspektive: Das Objektiv einer Kamera gleitet in einigen Metern Höhe über kunstvoll geschwungene Flusslandschaften inmitten eines dicht stehenden Regenwaldes, Dampfwolken steigen auf, nicht selten wird diese Szene aus der Vogelperspektive mit fremdartigen Tiergeräuschen untermalt. Das negative Kontrastbild hierzu lieferten Ende der 1980er Jahre die Aufnahmen US-amerikanischer Satelliten, welche bei Tage eine mit unzähligen Rauchschwaden verhangene Amazonasregion sichtbar machten. Bei Nacht war das gleiche Phänomen als eine Ansammlung kleiner, heller Lichtpunkte auf schwarzen Hintergrund zu betrachten. Anhand dieser Satellitenbilder ließen sich am 9. September 1987 in der gesamten Amazonasregion weit über 7000 Feuer zählen. Zahlreiche Flughäfen Südamerikas mussten ihren Flugverkehr aufgrund des vom Wind fortgetragenen Rauchteppichs einstellen. Diesen Darstellungen ist gemeinsam, dass sie den Regenwald von oben ins Visier nehmen und für wirkmächtige Effekte sorgen. Der Flug der Kamera über das grüne, dichte Blätterdach des Waldes erzeugt beim Betrachter unmittelbare Neugier und Verwunderung. Gleichzeitig symbolisiert das Bild des brennenden Regenwaldes das irdische Infernal und liefert zudem wichtige Daten zur Einschätzung der fortschreitenden Zerstörung. Dass diese Perspektive auf den mythisch aufgeladenen Regenwald angesichts der zutiefst besorgten Endzeitstimmung im Zeichen der ökologischen Krise bis heute ein konstanter Referenzpunkt ist, verwundert kaum. Gemeinsam ist sowohl der negativen (Feuer, Baumstümpfe, Sojafelder) als auch der positiven Variante (grüne Baumwipfel, Flüsse), dass Menschen aus der Vogelperspektive nicht sichtbar sind. Damit knüpft man in gewisser Hinsicht an die alte Vorstellungswelt des unbewohnten Naturraums an. Es scheint fast, als ob es dem Betrachter von außerhalb am leichtesten fallen würde, sich dem Regenwald von dieser Warte aus zu nähern. Auf ähnliche Weise, wie sich die meisten Abenteurer und Naturalisten in den Jahrhunderten davor dem Wald immer von der Flussseite aus näherten und aus ganz pragmatischen Gründen selten weit ins Landesinnere vorrückten. Dabei kam es Mitte der 1980er Jahre zu einer Entwicklung, die sich gegensätzlich zu der beschrieben Perspektive verhielt: Lokale soziale Bewegungen betraten die politische Bühne, als jene Satellitenbilder um die Welt zirkulierten. Das führte dazu, dass die Innen- mit der Außenperspektive konfrontiert wurde und beide sich aufeinander bezogen, um Legitimität zu erzeugen. Die Satellitenbilder benötigten die lokale Bevölkerung Amazoniens, um die entrückten Bilder aus dem Orbit mit der konkreten Ebene der Betroffenen zu verknüpfen. Indigene Gruppen wiederum beriefen sich auf die nordamerikanischen Satellitendaten, um ihre Forderungen und Ängste mit harten Fakten zu untermauern. Seit der verstärkten Sichtbarkeit der lokalen Bevölkerung - nicht wenige charismatische Führer der lokalen Bewegungen reisten Ende Achtziger Jahre nach Europa und Nordamerika – ist es aber auch schwieriger geworden, den Regenwald primär als einen von faszinierenden Tieren und naturverbundenen Indigenen bewohnten Naturraum darzustellen. Nichtsdestotrotz stellt diese Repräsentationsform immer noch eine Konstante dar, der man nur allzu oft begegnet. Gerade Organisationen, die sich ausschließlich auf den Schutz der Regenwälder konzentriert haben, neigen dazu, die alten Assoziationen vom Regenwald im Sinne einer bunten und in erster Linie von naturverbundenen indigenen Völkern bewohnte Gegenwelt weiterleben zu lassen. Auch wenn diese Darstellungsform nicht unbedingt durch Realitätstreue besticht, so ist sie in der westlichen Ideenwelt ein derart wirkmächtiges Konstrukt, an das es sich allzu gut anknüpfen lässt, um umweltpolitische Forderungen auf die Agenda zu setzen. Das erklärt auch, weshalb es nach wie vor eine bemerkenswerte Divergenz zwischen wissenschaftlichem Kenntnisstand und der umweltbewegten, bzw. journalistischen Debatte gibt. Dass der amazonische Regenwald seit seiner Besiedelung vor tausenden von Jahren als menschlich beeinflusst und darüber hinaus auch größtenteils als bewohnt zu gelten hat, interessiert sowohl einen Großteil der Umweltbewegung als auch die Öffentlichkeit herzlich wenig. Noch immer wird die Bevölkerung Amazoniens zunächst einmal mit naturverbundenen Indigenen assoziiert. Kleinbauern, Händler, Nachfahren geflüchteter afrikanischer Sklaven, Mestizen, Goldsucher usw. passen schließlich nicht so recht ins ökologische Bild des Regenwaldes. Noch schwieriger scheint es zu sein, anzuerkennen, dass sich in der Region während der letzten drei Jahrzehnte ein massiver Urbanisierungsprozess vollzogen hat und die Mehrheit Amazoniens mittlerweile in Städten mit modernen Shoppingzentren lebt.[6] Dabei scheint jeder nicht indigene Bewohner zunächst einmal verdächtig zu sein, in das grüne Paradies eingedrungen zu sein. Deutlich wird diese Einteilung in "gute" und „böse" Bevölkerungsteile am Beispiel der Yanomami. Jene indigene Gruppe galt vielen Anthropologen als besonders "ursprünglich" und "andersartig", was ab den 1970er Jahren zu einem regelrechten Sturm auf die Gruppe führte. Abenteurer und selbsternannte Yanomami-Experten wie Rüdiger Nehberg und Napoleón Chagnon besuchten diese mehrere Male und hielten ihre exotischen Erlebnisse erfolgreich und medienwirksam für ein westliches Publikum fest. Über jene "Lieblinge unter den Regenwaldbewohnern" wurden allein vom ZDF zwischen 1985 und 1990 sieben filmische Dokumentationen produziert.[7] Diese Erzählungen waren in erster Linie durch Abenteuerromantik und Exotismus gekennzeichnet. Dies festigte den Eindruck, dass es sich bei der Lebenswelt der Indigenen immer um die Antithese schlechthin zu unserem westlichen, zerstörerischen Zivilisationsmodell handelte. Wie tief verwurzelt diese Vorstellung vom Edlen Wilden im westlichen Blick auf Amazonien tatsächlich ist, wird am Beispiel einzelner indigenen Gruppen deutlich, die aufgrund ihrer Akkulturation jenem romantischen Idealbild nicht mehr entsprechen können. Obwohl auch in ihrem Fall indigene Wissensformen und Praktiken weiterhin existieren, sind sie für den Ökodiskurs nicht mehr interessant und werden in der Regel als Negativbeispiel für die prognostizierte Zerstörung Amazoniens erwähnt. Dabei liefert das Bedrohungsleitmotiv mit der gleichzeitigen Hervorhebung der kulturellen und ökologischen Vielfalt Amazoniens ein wirkmächtiges Argument für das Schutzbedürfnis und die intensivere Erforschung durch ausländische Wissenschaftler und NGOs.
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5. Persistenz und Problematik eines ökologischen Sehnsuchts- und Erinnerungsortes
Es stellt wirklich ein schwieriges Unterfangen dar, die vielschichtigen und miteinander verflochtenen Vorstellungswelten aufs Wesentliche zu destillieren. "Als diffuser Gegenpol alles Modernen und Strukturierten scheint die tropische Natur insgesamt jedenfalls geeignet, sehr unterschiedliche Dinge zu symbolisieren und auch widersprüchlichen Bestimmungen gerecht zu werden."[8] Dennoch steht fest, dass sämtliche beschriebenen Symbole, Ideen und Bilder sich bis heute immer wieder aufs Neue ausfindig machen lassen: von der Medienberichterstattung über den ökologischen Diskurs der Umweltbewegungen bis zu den Schriften einzelner Wissenschaftler. Und so pendelt der amazonische Regenwald nach wie vor zwischen "grüner Hölle" und "grünem Paradies", nicht nur im Ökotourismus, der vom Versprechen des Abenteuers oder der unberührten Natur lebt. Um ein aktuelles Beispiel zu geben, sei auf die Berichterstattung zur Fußball-Weltmeisterschaft im deutschen Fernsehen hingewiesen. Da werden im Trainingslager der deutschen Nationalelf indigene Tänze im Baströckchen aufgeführt und der Austragungsort Manaus in erster Linie als "grüne Hölle" oder "Dschungelstadt" beschrieben, in der es von "Indianern" nur so wimmelt. Bei aller berechtigter Kritik an dieser Form des europäischen Essenzialismus stellt sich für die Umweltbewegungen und ihre legitimen und relevanten Forderungen die Frage, inwiefern sich für einen vollständig entzauberten, von alten Erzähltraditionen befreiten Regenwald überhaupt Interesse wecken ließe. Inwiefern schadet oder nützt es Amazonien und seinen Bewohnern, wenn man jene Region als mächtiges ökologisches Kollektivsymbol oder gar als Gegenwelt zur Moderne aufrechterhält? Oder ist gerade die Entzauberung dieser "letzten großen grünen Erinnerung unseres Planeten"[9] angesichts der Realität vor Ort längst überfällig? Die Beantwortung dieser Fragen wird wohl in erster Linie von den Bewohnern der Region selbst geleistet werden müssen.
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Verantwortlich für diesen Erinnerungsort: Kevin Niebauer
Online seit 2014
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